Der Heilige Stephanus war fest verwurzelt im Glauben – gerade im Leid. Warum Krippe und Kreuz nicht zu trennen sind: Die Predigt von Bischof Stefan Oster zum Fest des Heiligen Stephanus am zweiten Weihnachtsfeiertag 2014.
Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
der Heilige Stephanus ist der erste Jünger Jesu, der für seinen Herrn stirbt. Mehr noch: Er stirbt in vielen Zügen ganz ähnlich wie sein Herr, dem er gefolgt ist. Ihm wird wie Jesus der Prozess vor dem Hohen Rat gemacht, wie bei Jesus werden falsche Zeugen gegen ihn vorgebracht, das Volk wird gegen ihn aufgehetzt. Er spricht wie sein Herr mit unglaublichem Freimut vor seinen Anklägern und gegen sie. Und schließlich bittet er in seinem Sterben um zwei Dinge, um die auch der sterbende Jesus gebetet hatte: „Vater, nimm meinen Geist bei Dir auf.“ Und zweitens für seine Mörder: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an.“
Ist es nicht so, dass einer einen unglaublich tiefen, festen Glauben haben muss, um so zu bekennen, um so verwurzelt in dem zu stehen, dem er glaubt? Liebe Schwestern und Brüder, der Heilige Stephanus gibt uns damit einiges auf.
Im Glauben so fest wie der Heilige Stephanus?
Mir zumindest gibt er die Frage auf: Wie geht das, so fest, so tief im Glauben verankert zu sein? Wie kommt man dahin? Wir alle wissen, dass ein Mensch einen tieferen und ein anderer einen oberflächlicheren Glauben haben kann. Und wir verbinden dann Tiefe des Glaubens auch mit Festigkeit, mit Unerschütterlichkeit. Einer, der einen tiefen Glauben hat, steht offenbar auch ganz fest darin.
Das wissen wir aus der Erfahrung mit gläubigen Menschen, die so schnell durch nichts erschüttert werden können. Oder von solchen, die durch großes Leid gehen und uns bekennen: Ohne meinen Glauben hätte ich das nicht durchgestanden. Es gibt aber auch die anderen, diejenigen, die sagen: Das Leid, das ich oder ein anderer ertragen muss, hat das Fass voll gemacht. An einen Gott, der so etwas zulässt, kann ich nicht mehr glauben.
Zusammenhang zwischen Leid und Glauben
Liebe Schwestern und Brüder, Stephanus gibt uns mit seiner ganzen Existenz eine Antwort auf diese schwierige Frage nach dem Zusammenhang von Leid und dem Glauben an Christus. Stephanus glaubt an seinen Herrn, der selbst gelitten hat, der selbst ein qualvollstes Martyrium durchgemacht hat und genau dadurch den Himmel wieder geöffnet hat. Christus hat dem Stephanus gezeigt, dass in dieser Welt niemand, niemand mehr beim Leid als einem Letzten stehen bleiben muss.
Auch beim Tod muss niemand mehr als einem Allerletzten stehen bleiben. Stephanus sieht vor dem Tod – und er wusste im Augenblick seiner Anklage von dieser Bedrohung – in diesem Augenblick der Todesdrohung sieht er den Himmel offen und Jesus, den Menschensohn beim Vater. Er sieht mit den Augen eines Glaubens, der ganz von sich selbst wegschauen kann, der ganz auf Jesus schauen kann. Ein Glaube, der weil er auf Jesus schaut, auch wirklich auf die Menschen schauen kann und sie lieben kann – weil sie Geschöpfe von Jesus sind.
Das Menschenherz: ein innerer Raum
Ich möchte diesen geheimnisvollen Zusammenhang noch mit einem tiefen Bild erläutern. In der christlichen Überzeugung ist das Menschenherz eine Art innerer Raum, ein Seelenraum, eine Art Beziehungsraum, der offen und weit und tief sein kann oder eng und verschlossen und ich-bezogen. Und nur damit sich jetzt niemand allzu sicher ist, möchte ich gleich sagen: In unserer normalen Verfassung in dieser Welt, so schön und doch gebrochen wie sie nun mal ist, ist auch unser Herz ein Abbild einer solchen Verfassung: Wir sind beides! Wir können offen und weit sein, aber auch engherzig und egoistisch. Und im Zweifelsfall, wenn es für uns selbst eng wird, neigen die allermeisten von uns auch zur zweiten Variante, zur Engherzigkeit.
Ein Mensch aber, der wirklich versucht, mit Christus zu gehen, der anfängt ihn zu lieben und ihm nicht nur äußerlich nachzufolgen, sondern auch innerlich immer mehr versucht, mit ihm verbunden zu leben, der bekommt gleichsam von selbst ein immer weiteres Herz. Warum? Weil dort, wo das Vertrauen wächst, dass Christus da ist, dass er mich wirklich trägt; wo das Vertrauen wächst, dass ich mich verlassen kann, dass ich mich loslassen kann, da muss ich mich nicht dauern selbst festhalten. Da kann ich mich gelassen einlassen, da kann ich den anderen Menschen dann auch gelassen mittragen und ertragen.
„Ich kann dich gut leiden“
Ist es nicht erstaunlich, dass wir manchmal zueinander sagen: Ich kann Dich leiden? Da steckt im Gernhaben also wirklich „Leiden“ drin. Den Anderen gern haben, sein Herz für ihn öffnen, ist nämlich auch eine Form des Erleidens des Anderen. Sie alle wissen das besonders dann, wenn ein Mensch Schmerzen hat, der Ihnen nahe ist. Dann ist Ihr Mitgehen und Mitleiden und Mittragen mit dem anderen die Gestalt Ihrer Liebe zu ihm.
Dann sind sie als Liebender ein Mitleidender. Aber, liebe Schwestern und Brüder, es gibt kein Mitleiden ohne die Fähigkeit, sich auf den anderen hin loszulassen, ohne die Fähigkeit, von sich selbst loszulassen. Und von hier wieder zurück zu meinem Bild vom Herzen als seelischem Innenraum: Je weiter Sie sich loslassen können, je tiefer Sie sich auf den anderen einlassen können, desto weiter und tiefer öffnet sich dieser Innenraum, desto tiefer, desto liebesfähiger wird Ihr Herz; desto mehr hat in Ihnen Platz.
Stephanus hatte ein offenes Herz
Und vielleicht sehen Sie mit mir nun auch diesen Zusammenhang bei einem wirklich Glaubenden, bei einem, der ganz fest im Vertrauen auf Christus steht: So ein Mensch wird gleichsam von unten getragen. Der hat seine Heimat, sein inneres Zuhause-Sein im radikal geöffneten Herzen Jesu. Weil er vertraut, dass Jesus für ihn soweit hinaus gegangen ist, dass er sein Leben gegeben hat. So sehr hat Jesus sich losgelassen, dass sein Herz eine so unfassbare Öffnung bekommen hat, dass darin buchstäblich die ganze Welt Platz gefunden hat.
Wir dürfen in dieses Herz Jesu hineinfinden. Stephanus hat hineingefunden. Und er hat darin so viel Stand gewonnen, dass er selbst so weit hinausgehen konnte, dass er selbst sein Leben für Jesus geben konnte; so dass er selbst im Sterben seinen Mördern noch verzeihen und auch für die noch einmal sein Herz öffnen konnte.
Einfallstor des Himmels
Liebe Schwestern und Brüder, vielleicht sehen Sie nun auch den folgenden Zusammenhang. Je weiter das Herz eines Menschen geöffnet ist, je weiter er gewissermaßen von sich weggehen, je tiefer er sich hingeben kann, desto mehr ist dieser Herzens-Innenraum schon erfüllt von Jesus. Und desto mehr ist das geöffnete Herz schon das Einfallstor des Himmels! Stephanus, der Mann, der für Christus sterben durfte, sieht den Himmel offen. Denn er hat den Himmel schon in sich und sieht ihn deshalb (!) auch mit den Augen des Glaubens über sich als seine eigentliche Heimat.
Und vielleicht vertieft sich nun auch für Sie die Gewissheit, dass unser Herr Jesus will, dass wir in Ihm stehen lernen. Dafür ist er Mensch geworden in Maria und in der Krippe von Betlehem, dafür ist er für uns durch tiefstes Leid gegangen am Kreuz, dafür ist er auferstanden und hat uns von seinem Geist gegeben: damit wir hineinfinden in sein Herz und uns von Ihm tragen lassen. „Kommt alle zu mir, die Ihr euch plagt und schwere Lasten tragt: Ich will Euch Ruhe verschaffen“, sagt er uns im Evangelium. Wer bei Jesus innerlich angekommen ist, wer in Ihm zuhause sein darf, der kann getrost sein Herz öffnen. Ja, der weiß vielleicht sogar um das Geheimnis, dass eine solche Herzensöffnung oftmals nicht ohne Leiderfahrung vonstatten geht.
Stephanus‘ Lektion: Gereift im Leid
Denn wenn Sie ehrlich mit sich sind, Schwestern und Brüder, und sich fragen, wann Sie als Mensch im guten, im christlichen Sinn am meisten gereift sind, dann wird die Antwort in der Regel nicht sein: Dort, wo das Leben am meisten Spaß gemacht hat. Die Antwort wird eher sein: Dort, wo ich wirklich zu kämpfen, zu leiden, zu tragen hatte und wo ich das angenommen und durchgetragen habe. Dort passiert Reifung, dort werden wir tiefer und echter, wenn wir es annehmen. Und noch tiefer werden wir, wenn wir in unserem Glauben so gewachsen sind, so in Christus sind, dass wir es in Ihm und mit Ihm annehmen lernen als unser Kreuz. Dann werden wir im guten Sinn demütig, dann wird unser Herz weit und tief – und dem Seinen immer ähnlicher.
Liebe Schwestern und Brüder: der heilige Stephanus gibt uns heute eine schwere Lektion auf. Aber es ist eine Lektion, die zugleich voller visionärer Hoffnung ist. Er sieht im Angesicht des Todes den Himmel offen, weil er auf den vertraut, der an Weihnachten durch Maria Mensch geworden ist und im Holz der Krippe lag; weil er auf den vertraut, der am Holz des Kreuzes gelitten hat und weil er auf den vertraut, der durch sein Leiden und Sterben den Tod besiegt und den Himmel wieder aufgeschlossen hat. Weil er auf den vertraut, der buchstäblich das Herz der Welt ist! Krippe und Kreuz sind nicht zu trennen, sie gehören zusammen, aber die Perspektive für uns alle ist die Freude am offenen Himmel.
Krippe und Kreuz sind nicht zu trennen
Und wo würde uns das tiefer und schöner verdeutlicht als in diesem phantastischen Dom, dessen Hauptpatron wir heute feiern dürfen. Liebe Schwestern und Brüder, wir dürfen froh und dankbar sein für diesen großartigen Patron unseres Gotteshauses.
Er macht es uns nicht leicht, aber er führt uns in die Tiefe unseres Glaubens. Er zeigt uns, dass der Mensch, jeder Mensch, letztlich etwas braucht, für das es sich lohnt, zu leben und sogar sein Leben zu geben. Und das ist niemand anderer als der, den wir gestern, am Weihnachtstag, als unseren Retter jubelnd begrüßt haben. Ihm gehört unser Leben, er ist der Herr. Amen.