Der im vergangenen Jahr verstorbene Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat bereits 1964 einen berühmten Satz geschrieben, der sehr viel bedacht und kommentiert worden ist. Er sagt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. Was heißt das? Es heißt zunächst, dass eine Demokratie wie die unsere mit so wesentlichen Kennzeichen wie Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Mitbestimmung nur dann funktionieren kann, wenn eine grundsätzliche Bereitschaft des allergrößten Teils der Menschen da ist, am Aufbau und Erhalt des Gemeinwesens mitzuwirken und beizutragen.
Was heißt säkular?
„Säkular“ oder „säkularisiert“ bedeutet im Böckenförde-Diktum, dass es zum Beispiel eine grundsätzliche Trennung von Kirche und Staat oder zwischen anderen Religionsgemeinschaften und dem Staat gibt, was freilich die Kooperation zwischen beiden nicht ausschließt. Aber der Zugang zur Mitwirkung an politischer Willensbildung darf nicht an ein religiöses Bekenntnis gebunden sein. Umgekehrt darf die Zugehörigkeit zu einem religiösen Bekenntnis die Mitwirkung an der politischen Willensbildung nicht ausschließen – sofern diese Zugehörigkeit der Verfassung des Staates nicht grundsätzlich widerspricht.
Was sind die Voraussetzungen?
Von hier können wir uns also fragen: Was bedeuten die „Voraussetzungen“, von denen ein freiheitlicher, säkularisierter Staat nach Böckenförde lebt? Ich würde zunächst sagen: Demokratie braucht Bildung und daher Teilhabe möglichst aller an umfassenden Bildungsangeboten. Im Besonderen braucht Demokratie aber Herzensbildung, also eine Bildung der menschlichen Persönlichkeit, die durch die Vermittlung von weitgehend gemeinsam geteilten Grundwerten geschieht. Solche Werte wären die Bereitschaft, am Aufbau des Gemeinwohls mitzuwirken, das Bemühen, wahrhaftig zu sein, das Bemühen, sich nicht korrumpieren zu lassen, das Bemühen, solidarisch mit Menschen in Not zu sein, das Bemühen, jeden Menschen als Person mit Würde und dem Recht auf freie Lebensgestaltung anzuerkennen und andere mehr. Unser Grundgesetz baut insgesamt auf dieser Einsicht in die Würde der Person auf, wenn in seinem ersten Artikel steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser großartige Artikel als Fundament einer Verfassung ist aber eine Errungenschaft eines geschichtlichen Entwicklungsweges von Denken, Glauben und staatlicher Entwicklung, der sich wesentlich aus dem Ineinander großer antiker Traditionen von Rom, Athen und dem christlich-jüdischen Erbe speist – zusammen mit der europäischen Aufklärung. Zudem ist er Ergebnis einer Leidensgeschichte und Rückbesinnung unseres Volkes nach den menschenfeindlichen Diktaturen des 20. Jahrhunderts.
Was heißt „Würde“? Und was „unantastbar“?
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ In den letzten Jahrzehnten haben wir gelernt, wie wichtig, aber auch wie gefährdet dieser Satz ist. Und wie grundsätzlich einsichtig einerseits – und zugleich wie schwer verständlich andererseits. Irgendwie versteht ihn jeder, aber sobald wir erklären sollen, was genau mit „Würde“ gemeint ist, fällt es uns schwer, das deutlich zu machen. Ebenso wenig einfach ist es, kurz zu sagen, was „unantastbar“ hier meint. Ist es ein Satz, der einfach nur etwas beschreibt? Oder ist es ein Satz, der sagt, was sein soll oder nicht sein darf? Kann die Würde des Menschen überhaupt angetastet werden? Oder darf sie nicht angetastet werden? Ich würde hier aus gläubiger Sicht sagen: Es gilt beides, der Satz beschreibt etwas und sagt etwas, was sein soll. Denn die tiefe Einsicht in die Würde des Menschen kommt aus der christlichen Überzeugung, dass jeder Mensch Ebenbild Gottes ist. Der Mensch ist kraft seiner Vernunft und seinem Willensvermögen grundsätzlich ein freies Wesen. Zugleich spüren wir, dass wir alle der Möglichkeit ausgesetzt sind, Gefangene zu werden – versklavt gegenüber unseren Egoismen und Süchten oder aber von anderen Menschen, die es schaffen, uns in manipulativer Weise an sich zu binden, im Kleinen und im Großen, in persönlichen Beziehungen wie in staatlichen Verhältnissen. Ursprünglich sind wir frei, aber – so hat schon Jean-Jacques Rousseau gesehen – liegen wir doch vielfach innerlich oder äußerlich in Ketten.
Würde und Freiheit
Die Würde bezieht sich daher vor allem auf unsere Freiheit. Als Christ glaube ich, dass jeder Mensch – und sei es der letzte Verbrecher – Würde hat; eben, weil er sie nicht zuerst durch meine Anerkennung gewinnt, sondern weil er von Gott her ein Geschöpf, ein geschaffener Mensch ist und bleibt. In diesem Sinn ist Würde unverfügbar und unantastbar. Freilich: Wir leben allzu oft nicht so, dass man uns das ansieht. Und wir tun uns schwer, diese Art der Unantastbarkeit zu begründen, wenn wir nicht an Gott glauben, obgleich es wichtige philosophische Versuche dazu gibt, etwa den von Immanuel Kant. Freilich steht auch Kant insgesamt in der oben genannten Tradition geschichtlichen Werdens. Fehlender Gottesglaube aber oder auch menschlicher Mangel an Einsicht in die Unantastbarkeit der menschlichen Würde, führt nun dazu, dass diese geschützt werden muss. Die staatliche Gewalt sorgt deshalb dafür, dass unsere Würde nicht angetastet werden darf! Unsere staatlich gewährten Freiheitsrechte etwa, das Recht auf Versammlungsfreiheit, auf freie Berufswahl, auf die Ausübung von Religion oder auch die Rechte des Schutzes der Privatsphäre oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit sind Ausdruck solchen staatlichen Bemühens, die Würde des Menschen nicht anzutasten, sie zu schützen, denn: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Grundlegendes Erziehungsziel: Die Achtung vor der Würde des Anderen
Wenn der Staat insgesamt die Würde in diesem Sinn zu schützen hat, dann gehört es aber zu den grundlegenden Erziehungszielen staatlicher Autorität, den Bürgerinnen und Bürgern dasselbe zu vermitteln: Dass ausnahmslos jeder Mensch Würde hat, dass diese unantastbar ist, dass dazu für jeden das Recht auf freie Selbstentfaltung gehört und dass die Würde jedes einzelnen geschützt werden muss. Besonders die letzten beiden Aspekte: das Recht auf freie Selbstentfaltung und der Schutz der Würde des jeweils anderen stehen in Spannung zueinander und brauchen ebenfalls gesunde Balance, die aber nicht einfach da ist, sondern immer neu errungen werden muss. Wie weit geht mein eigenes Recht auf freie Selbstentfaltung und wo kollidiert es mit den Freiheitsrechten der Anderen und mit dem Schutz von deren Würde? Oder wie wir es gerade erleben: Wo kollidieren Freiheitsrechte der Einen mit dem nötigen Schutz des Lebens der Anderen?
Der Grundsatz braucht Training
Das heißt: Den Grundsatz von der Würde des Menschen im Sinn des Grundgesetzes unter uns Menschen lebendig sein zu lassen, braucht ständiges Training, braucht Übung, braucht Einsicht, braucht ständigen Diskurs, braucht Unterscheidung, braucht Anerkennung – und braucht aus meiner Sicht zuletzt auch: Anerkennung Gottes als dem ursprünglichen und eigentlichen Träger und Verleiher von Würde. Nach diesen Überlegungen frage ich mich – mit Ernst-Wolfang Böckenförde: Woher soll also in einem Staat wie dem unseren das Bildungsziel der Anerkennung der Würde ausnahmslos jedes Menschen kommen? Woher die Einsicht? Woher das dazugehörige Menschenbild? Oder mit Böckenförde gefragt: Wer könnte dem Staat „garantieren“, dass diese Voraussetzungen da sind, wenn es der Staat es selbst nicht kann?
Die Erosion vor der Achtung der Würde des Anderen
Meine Position: Wir erleben in unserem Land seit langem eine Erosion des Glaubens und der gläubigen Praxis. Diese geht folgerichtig fast notwendig einher mit einem schwindenden Bewusstsein darüber, dass ausnahmslos jeder Mensch ein Wesen mit Würde ist und dass deshalb seine unbedingte Anerkennung als Person eine Menschenpflicht ist. Was ich aber beispielsweise sehe: In den inzwischen alleralltäglichsten Kommentierungen von Ereignissen und Positionen im Netz, vor allem in den Social Media, wird Menschenwürde, wird Respekt vor dem Anderen als Anderen in jedem Augenblick tausendfach, millionenfach verbal mit Füßen getreten. Und leider gilt dies auch für innerkirchliche Medien. Ich habe zudem den Eindruck, nicht weniges davon setzt sich in den weiteren Prozessen politischer Willensbildung fort. Der Ton wird rauer, der Respekt voreinander schwindet, die Gewaltbereitschaft, real und verbal an den rechten und linken Rändern, nimmt zu. Die weitgehende Übereinstimmung in Grundwerte einer freiheitlichen Demokratie wird instabiler und prekärer. Was ich damit aber nicht sagen will: Dass wir über Positionen nicht ehrlich ringen dürften uns sollten, dass wir nicht sagen können und sollen, was wir für richtig und falsch halten. Im Gegenteil: Eine angemessene Streitkultur mit einer grundsätzlichen Hermeneutik des Wohlwollens für den Anderen ist sogar Ausweis einer reifen Gesellschaft. Aber der Reflex des schnellen Urteils und in eins damit der Reflex der schnellen Aburteilung einer Person oder Gruppe, ist kontraproduktiv zur Achtung der Würde jedes Menschen – passiert aber ununterbrochen.
Eine katholische Antwort
Worauf ich hinauswill (und ich spreche nun ausdrücklich als Katholik, vieles von dem gilt aber für Christen aller Konfessionen): In einem katholischen Gottesdienst, in einer Hl. Messe, stellt sich jeder Gläubige zu Beginn erst einmal unter das Erbarmen Gottes. Er bekennt, dass er ein Sünder ist, ein Mensch also, der dazu neigt, immer zuerst sich selbst zu sehen und nicht zuerst Gott und von ihm her seinen Nächsten. Er bekennt sich als Mensch, dessen Denken, Sprechen und Handeln daher immer wieder der Würde Gottes und der Würde des Anderen – aber deshalb zugleich auch seiner eigenen Würde widerspricht; eben, weil wir Gott und den anderen zu wenig, uns selbst aber überproportional viel im Blick gehabt haben. Wir glauben, dass Gott uns aus diesem Bußakt Vergebung zuspricht – und wir hören im Anschluss daran Gottes Wort. Dieses stellt uns vor Augen, wie wir in einer Heilsgeschichte stehen, in der Gott immer neu dem Menschen entgegenkommt – um ihm seine Würde zuzusagen und heilend und heilsam zurück zu geben. Wir empfangen anschließend die Gegenwart des Gekreuzigten in der Eucharistie, die Gegenwart des Gottessohnes, der in seiner unfassbaren, majestätischen, göttlichen Würde den würdelosesten Tod eines elenden Verbrechers gestorben ist. Er hat dies auf sich genommen, um deutlich zu machen: „Was auch passiert: Gott steht an deiner Seite, kehr immer neu um zu ihm, lass dir deine Würde von ihm neu zusprechen und vertraue, dass niemand sie dir nehmen kann. Lebe in dieser Würde der Gotteskindschaft – und dann geh hinaus – und gehe so auch mit der Würde der Anderen um.“
Die Systemrelevanz des Glaubens
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, sagt Böckenförde. Wenn aber die Anerkennung der Menschenwürde die allergrundlegendste Voraussetzung für diesen Staat ist, dann lebt der Staat davon, dass es Vollzüge, Einrichtungen, Institutionen und überzeugte Menschen gibt, die mithelfen, dass in diesem Staat vor allem anderen die Menschenwürde geachtet wird. Und dies geht aus unserer Sicht einher mit der Achtung der Würde Gottes, eine Achtung, die vor allem Ehrfurcht genannt wird. In diesem Sinne sind christliche Glaubensbildung und die Feier dieses Glaubens im Gottesdienst in einem sehr grundlegenden Sinn überaus systemrelevant für das Leben dieses freiheitlichen Staates. Wenn aber der Gottesdienst verschwindet (und ich meine damit ausdrücklich nicht eine vorübergehende öffentliche Suspendierung, wie wir sie erlebt haben), was träte an dessen Stelle? Wir erleben es seit einiger Zeit in unserem Land: Menschen, die in einem ursprünglich christlich geprägten Land nicht mehr an Christus glauben, glauben nicht mehr an nichts, sondern glauben in der Regel eher an alles Mögliche. Und fast immer sind es solche „Glaubensweisen“ – wie etwa selbstgezimmerte Weltbilder, Ideologien, Verschwörungstheorien, krude esoterische Heilsversprechen – die das eigene persönliche oder gemeinschaftliche Ego aufbauen – zu Lasten von Anderen; größere oder kleinere Versionen von „America first“ gewissermaßen. Dass wir innerkirchlich selbst auch von solchen Egoismen und bisweilen Ideologien betroffen sind, hängt damit zusammen, dass wir alle miteinander auch Menschen sind, die ebenfalls das oben geschilderte Erbarmen Gottes immer neu brauchen. Auch für Christen ist ein Staat wie unserer ein anspruchsvolles Abenteuer – aber wir sind der Überzeugung, dass uns gerade unser Glaube lehren und helfen kann (und muss!), reifer darin zu leben – weil wir unseren Glauben nicht nur für system- sondern zugleich für heilsrelevant halten.
Meine Hoffnung ist daher, die Corona-Krise bringe in uns ein erneuertes Bewusstsein dafür hervor, was in unserem Land und unserer Gesellschaft wirklich not-wendig ist: Die Rückbesinnung auf die unbedingt schützenswerte Würde von ausnahmslos jedem Menschen. Der Rest müsste sich von selbst ergeben….
Kommentare
Sehr geehrter Herr Bischof Oster, ich kann Ihrem Aufsatz nur zustimmen. Doch frage ich mich, wie gehe ich damit in konkreten Konfliktsituationen ganz praktisch um? Wenn z.B. über eine Kommunikationsstarre zwischen einem Bischof und seinen Priestern, oder zwischen Bischöfen und ihren Gläubigen geklagt wird, wie muss ich dann reagieren, wenn mir die unantastbare Würde des Menschen wichtig ist und ich als Einzelner aktiv dazu beitragen will?
Sehr geehrter Herr Kasanmascheff,
danke für die Frage. Sie fragen freilich mit Fallbeispielen, die eine allgemeine Antwort schwierig machen, weil daraus noch nicht gleich zu sehen ist, wie die Würde eines einzelnen verletzt wird.
Daher nur so viel: Als Einzelner trägt man zu einem menschenwürdigen Klima bei, wenn man selbst dort wo man steht, unbedingte Achtung vor der Würde jedes Menschen hat. In kleineren, wie in größeren Kontexten. Freilich ist diese Achtung fast immer erst der Anfang und Ausgangspunkt – und nicht schon die konkrete Lösung für bestimmte Fragen und Probleme. Mit herzlichem Gruß SO
Ein wie ich fand spanenden und lesens- und bedenkenswerter Beitrag – dem ich gleichwohl nicht ganz zustimmen kann. Vielmehr fehlt mir etwas wesentliches,
Mein erster Eindruck war vorurteilsbeladen – wenn in der Vergangenheit Bischöfe das Böckenförde-Theorem bemühten, dann meist mit dem Ziel, die (meist unausgesprochen eigene) Kirche, wenigstens aber die (eigene) Religion als Lückenfüller anzubieten, die bereitwillig dieses Defizit der staatlichen Ordnung ausfüllen und daher mit allem Recht staatliche Privilegien in Anspruch nehmen könne.
In weiten Teilen widersteht Oster zunächst dieser Versuchung, eine Unersetzbarkeit der Kirche so zu begründen, wenn er vor allem die Bildungsvoraussetzungen benennt, auf die der Staat nicht verzichten könne, um dann doch die Gotteserfahrung als (fast möchte ich sagen) funktionale Begründung der Würde des Menschen ins Spiel zu bringen. Hier sind Bedenken anzumelden, weil hier der juristische Würdebegriff des Art. 1 GG in eins gesetzt wird mit dem Gedanken der aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen erwachsenden Würde des Menschen aus theologischer Perspektive.
Und er schließt dann – wie ich finde gewagt: „Meine Position: Wir erleben in unserem Land seit langem eine Erosion des Glaubens und der gläubigen Praxis. Diese geht folgerichtig fast notwendig einher mit einem schwindenden Bewusstsein darüber, dass ausnahmslos jeder Mensch ein Wesen mit Würde ist und dass deshalb seine unbedingte Anerkennung als Person eine Menschenpflicht ist.“
Hier wird nun der klassische Topos der Moderne als Verfallsgeschichte betont und er Mythos bespielt, es werde dort alles schlechter, wo die Kirche ihre ordnende und segnende Hand nicht mehr im Spiel hat. Schon die Geschichte des innerkirchliche Umgangs miteinander spricht sehr gegen diese Behauptung, es ist ja nun nicht so, dass in den im Rückblick bisweilen verklärten vermeintlichen Hochzeiten der Kirche der Umgang miteinander immer eine Ausweis der Respektes vor der Würde des Menschen und den daraus abgeleiteten Rechten waren. Diese Rechte wurden gegen den zum Teil erbitterten Widerstand der Kirche formuliert, auch wenn sie grundsätzlich in der großen biblischen Erzählung der Schöpfung des einen Menschen als Abbild Gottes wurzeln mögen. Auch wenn Stefan Oster diese problematische Geschichte nicht benennt, er sieht doch deutlich, dass der fehlende Respekt vor der Würde des Menschen auch in kirchlichen (manchmal in sich besonders kirchlich gebenden) Kreisen vorkommt.
Aber dann kommt er zum Ziel seiner Argumentation – der wie er sie nennt katholische Antwort, dem Gottesdienst als wie er es darstellt dem Ort der Einübung in den Respekt vor der Würde des Menschen. Er gesteht dies jedem Gottesdienst zu, und ich kann und will ihm darin auch nicht widersprechen, dass der Gottesdienst EIN Ort dieses Einübens sein kann (und zwar aus seiner Struktur heraus, nicht weil der Zelebrant / Prediger hier pädagogisch oder andragogisch tätig würde), ich widerspreche ihm aber deutlich in der Verengung, dass der Gottesdienst DER Ort hierfür sei.
Hier verengt Stefan Oster den kirchlichen Auftrag ebenso wie den kirchlichen Beitrag zum Staat auf diesen einen Punkt, der im Moment allerdings die Bischöfe zentral zu beschäftigen scheint.
Ein zweiter Lernort der Würde des Menschen ist jedoch das diakonische Handeln der Kirche. Wo man sich dem anderen zuwendet, weil er Mensch ist, da kann man in ihm Christus erfahren. Wo man sich um den anderen sorgt, weil er Mensch ist, das nimmt man die Würde des anderen erst ernst und dann manchmal auch wahr. Und dies gilt für alle Bereiche des diakonischen Handelns – institutionell in den großen und kleinen Unternehmen von Caritas, diakonischem Werk & Co., aber auch anders oder weniger institutionell in den Vereinen und Verbänden und Gruppen, in denen Menschen zusammenkommen, ihr Leben miteinander teilen, aneinander wachsen und durch den anderen Erfahrungen des Gelingens machen.
Dasselbe gilt für zumindest Teile des Verkündigungsauftrages der Kirche: Auch wenn mir klar ist, dass etwa der Religionsunterricht keinen katechetischen Auftrag hat, so hat er gleich wohl einen verkündigenden wie auch einen diakonalen Aspekt, der jedoch derzeit vernachlässigbar zu sein scheint.
Dieser Bereich kirchlichen Wirkens liegt im Moment fast gänzlich auf Eis, und man darf besorgt sein, ob er wieder aufgetaut werden kann. Aber dieser Bereich kirchlichen Handelns ist nicht minder systemrelevant als die Gottesdienste, er ist allerdings meist nicht klerikal verantwortet respektive geleitet. Und daher komme ich an dem Vorwurf und der Kritik nicht vorbei, dass Oster die Kirche und ihre Systemrelevanz verengt auf die Liturgie und damit auf das klerikale Handeln (weil er jene Bereiche kirchlichen Tuns komplett ausspart, die in der deutschen Realität ohne Kleriker auskommt).
Eine solche Gottesdienst Betriebs- und Veranstaltungs GmbH, die die Bereiche Diakonie und Verkündigung ausspart, mag als systemrelevant gedacht werden können, ob sie theologisch als Kirche Jesu Christi ihrem eigenen Anspruch gerecht wird, das darf bezweifelt werden.
Besten Dank, Herr Lappen, für diesen ausführlichen und konstruktiven Blick auf meinen Text. Sie benennen einen Punkt, den der Text aber implizit enthält. Vor allem im letzten Satz fühle ich mich daher massiv missverstanden. Wenn Sie den Text noch einmal genau lesen, dann führt er dahin, dass wir hinausgehen sollen – und in der Würde der eigenen erfahrenen Gotteskindschaft mit anderen so umgehen, wie wir selbst glauben, dass Gott mit uns umgeht. Was heißt das anderes, als sich caritativ zu engagieren? Natürlich ist der Text mit dem Hintergrund der Corona-Erfahrung geschrieben und soll einen Blick werfen auf die Fragen nach der von vielen schmerzlich empfundenen Suspendierung der Gottesdienste – und den folgenden Fragen nach ihrer Systemrelevanz.
Was ich aber sehr grundsätzlich glaube: Sie sprechen von einer „Gottesdienst Betriebs- und Veranstaltungs GmbH“ und denunzieren damit eben das, was ich versucht habe als existenzielle und mich (hoffentlich) immer wieder verändernde Glaubenserfahrung im Gottesdienst darzustellen. Und wie das mit der Menschenwürde zusammenhängt.
Und was in diesem Zusammenhang die Diakonie der Kirche angeht: Erstens war sie während dieser Zeit der Krise längst nicht im selben Maß ausser Kraft gesetzt wie die Gottesdienste. Ganz im Gegenteil: so viele unserer Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser, Beratungsstellen, (Telefon-)Seelsorge u.a.m. waren jetzt gerade systemrelevantes Rückgrat der Krisenzeit.
Zweitens aber: Wir erfahren gerade in diesen Einrichtungen (Caritas, Diakonie) eine massive Anfrage an unsere Glaubwürdigkeit, weil sie von sehr vielen Menschen kaum noch als Einrichtungen der Kirche wahrgenommen werden – sondern häufig als gut funktionierende Sozialdienstleistungs GmbHs – um Ihre Diktion zu verwenden. Daher ist meine sehr grundsätzliche Frage: Was unterscheidet unser diakonisches Engagement als Kirche von dem jeder anderen sozialen Einrichtung? Wenn nicht eine entschiedene christliche Erfahrung, aus der sich ein neues Menschenbild ergibt und eine andere, tiefere, weit reichendere Liebesfähigkeit, die so viel mehr bedeutet als nur soziale Professionalität (gegen die hier freilich mit keiner Silbe gesprochen werden soll)? Anders gesagt: Wenn der Gottesdienst im Blick auf die Würde die beschriebene existenzielle Erfahrung ermöglicht und ja, eben auch diese „Funktion“ hat (er hat mehr als diese „Funktion“ und dieses Wort mag ich hier nur in diesem engen Sinn verstanden wissen), wenn aber andererseits der Gottesdienst nur mehr von 10 Prozent der Menschen besucht wird, die in der Regel durchschnittlich über 70 sind, dann ist der Zusammenhang evident – und dann ist dieser Befund zugleich eine Art spirituelles Desaster – auch für unser diakonisches Engagement.
Schließlich: Dass ich einen Mythos von einer Verfallsgeschichte bediene, weise ich zurück. Nein, früher war auch nicht alles besser, das ist evident. Aber was ich festhalte: Existenzielle, christliche Glaubenserfahrung von der Realpräsenz Gottes in ihrem Leben verändert Menschen, macht sie besser und macht deshalb die Welt besser. Mit den besten Wünschen SO