Predigt in der Hl. Nacht 2019 im Passauer Dom.
Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
wir leben heute in einer verwundeten Welt. In vielfacher Hinsicht. Buchstäblich merken wir, wie wir unsere Natur verwundet haben und einer ökologischen Krise entgegengehen. Durch menschliches Tun bedrohen oder zerstören wir die Grundlage, von der wir leben: Die Vielfalt der Arten, die Wälder, die Böden, die Ozeane, die Luft, das Klima. Wir leben auch in einer verwundeten Welt, in der sich viele Menschen vom Fremden bedroht fühlen, in der Nationalismen wieder um sich greifen und in der nicht wenige Menschen persönliche Angst haben, ihre Lebensgrundlage zu verlieren, die Arbeit, die Sicherheit, den Wohlstand, den sozialen Frieden. Wir leben in einer Welt, in der das Zusammenleben in Familien zerbrechlich geworden ist, in der die Zahl der psychisch kranken Menschen stetig zunimmt, besonders bei Kindern und Jugendlichen. Wir leben in einer Welt, in der es vielfältige alte und neue Formen von Süchten und Abhängigkeiten gibt; in einer Welt mit ungeahnten Möglichkeiten der technologischen Revolution, die uns aber zugleich die Möglichkeiten gibt, risikolos alle möglichen Bosheiten zu verbreiten, die andere verwunden. Und wir erleben eine technische Revolution, die uns schleichend in die umfassende technologische Überwachung führen und unsere Privatsphäre zerstören kann. Wir leben in einer verwundeten Welt.
Die Wunden der Kindheit
Und wie ist es um unsere eigene, persönliche Welt bestellt, um unser persönliches, inneres Klima? Machen manche Krisenzeiten nicht auch besonders offenbar, dass jeder einzelne Mensch ein Verwundeter ist? Ja, ich und du sind Verwundete. Jeder und jede auf seine Weise. Ganz besonders in der Kindheit war und ist jeder von uns anfällig gewesen, verwundet zu werden. Ein kleines Kind ist das abhängigste, bedürftigste Geschöpf, das man sich vorstellen kann. Es ist unbedingt angewiesen auf die ganze Fürsorge der Mutter, des Vaters, der anderen. Es braucht die Zuwendung, die Gefühle, die Anregungen, die Kreativität, den Zuspruch, die Versorgung, die Geborgenheit und mehr – alles durch die anderen. Und weil jeder von uns schon in eine verwundete Welt hineingeboren wurde und auch Eltern hatte, die ihrerseits verwundet waren, hat jeder von uns mehr oder weniger Wunden aus der Kindheit davon getragen. Niemand kommt da unverletzt raus. Und nicht wenige von uns haben diese Wunden internalisiert. Nur ein paar Beispiele von vielen: Wie geht es Menschen später einmal, wenn sie als kleine Kinder nur Zuwendung bekommen, wenn sie funktioniert haben? Oder wie geht es, wenn Mama den kleinen Jungen spüren lässt, dass sie lieber ein Mädchen gehabt hätte? Oder wie geht es, wenn das Mädchen im Kindergarten gehänselt wird, weil es irgendeine Eigenschaft hat, die anders ist als die anderen? Oder wie können Kinder Trennungen von Eltern oder Verlust von engen Angehörigen verarbeiten? Oder wie geht es, wenn ein Kind vom Lehrer hören muss: Das lernst du nie! Oder was macht es erst recht mit einem Kind, wenn es reale physische oder psychische Gewalt erleiden muss. Kinderseelen sind so leicht und so vielfältig verletzbar, liebe Schwestern und Brüder, und mancher trägt sein Leben lang an solchen Verletzungen. Oder auch an solchen, die später hinzukommen.
Die Reaktionen auf die Verwundungen
Kinderseelen sind aber deshalb so verletzbar, gerade weil sie so offen sind, weil sie so ausgestreckt sind auf die Welt hin und auf die, die für sie da sein sollten. Aber genau wegen dieser ursprünglichen Offenheit können Kinder auch so viel besser Weihnachten erleben als wir Erwachsenen. Kinder leben darin so tief, so freudig und so gläubig vertrauensvoll. Wir alle wissen, welcher Zauber von leuchtenden Kinderaugen vor dem Christbaum ausgeht.
Aber eben, liebe Schwestern und Brüder, wir alle werden erwachsen, wir haben Verwundungen erlitten, wenn wir Glück hatten, nicht viele. Aber fast immer bringen sie bestimmte Reaktionen und Verhaltensmuster hervor in uns. Wir gehen auf Distanz, sind skeptisch, wir schützen uns vor zu offener Begegnung, wir haben weniger Vertrauen, mehr Verdacht und das oft berechtigt – weil wir die Welt inzwischen auch von ihrer dunklen Seite kennen. Wir haben uns Komplexe angeeignet wegen Dingen, die uns fehlen oder von denen wir zu viel haben – und hoffen, dass es niemand merkt. Oder wir wollen alles kontrollieren oder wir verdrängen schlimme Erlebnisse in den tiefen Keller des Vergessens, wo sie freilich untergründig weiterbrodeln. Oder wir tun uns schwer Gefühle zu zeigen. Oder wir werden ehrgeizig und wollen besser werden als die, die uns vielleicht gedemütigt haben. Wir streben nach Macht, nach Reichtum, nach Vergnügen, die uns und anderen dann zeigen, dass wir es geschafft haben. Und dass wir uns nicht mehr verwunden lassen in dieser verwundeten Welt! Wir denken erst einmal an uns – und glauben, wir haben das volle Recht dazu.
Der Verlust der Unmittelbarkeit
Aber lieber Schwestern und Brüder, wenn wir ehrlich sind, spüren wir, dass mit alledem auch Verlust einhergeht, Verlust von Ursprünglichkeit, Verlust von wirklicher Fähigkeit ganz offen zu sein, ganz authentisch, hingebungsvoll. Wir wären gerne oft wieder offen und vertrauensvoll wie Kinder, aber ach, die Welt da draußen ist so bedrohlich. Sie verwundet.
Und hier, liebe Schwestern und Brüder, liegt dann einer der Gründe, warum wir uns so oft auch mit nostalgischen Gefühlen nach Weihnachten sehnen. Auch dann, wenn wir es sonst mit dem Glauben nicht so haben. Denn irgendwie ist da bei Vielen doch die innere Ahnung geblieben: Hier kommt mitten in eine verwundete Welt der Einbruch von Himmel, der Einbruch von heiler Welt. Und wir hoffen, dass da ein Anfang einer heilen Welt ist, der nie mehr vergeht, und an dem wir auch irgendwie Anteil haben dürfen. Und wenn es dieses Gefühl, diese Ahnung, diese Sehnsucht ist, liebe Schwestern und Brüder, warum viele von Ihnen heute Nacht hier sind, dann sind Sie goldrichtig!
Jesus kommt in eine Welt, die ihn verwunden wird
Schauen wir dazu auf die Welt von damals, in die Jesus kommt. Sie ist von Anfang an darauf angelegt, auch ihn zu verwunden. Maria und Josef kommen in Josefs Heimatstadt Bethlehem. Aber weder seine Verwandten noch die Herberge nehmen sie auf. Die Welt ist hier schon abweisend. Die Geburt findet in äußerster Erniedrigung in der Kälte der Nacht unter Stalltieren statt; König Herodes lässt das Kind suchen, um es zu töten. Die Eltern müssen mit ihm nach Ägypten in die Fremde fliehen und einige Jahre dort bleiben. Schon am Anfang zeigt sich, dass auch Jesus von dieser Welt in seiner eigenen Umgebung verwundet werden wird. Bis hin zum brutalstmöglichen Tod am Kreuz, verurteilt durch die verhasste Staatsmacht Rom und verurteilt durch die religiösen Führer seiner Zeit. Jesus kommt in eine verwundete Welt und in eine Welt, die verwundet. „Er kam in sein Eigentum werden wir morgen im Evangelium hören, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.“
Bei Ihm beginnt die Heilung
Aber, liebe Schwestern und Brüder, und das ist unser Glaube, eben dieser kommt als der ganz Heile. Er kommt als das himmlische Kind, das alle Verwundungen salben und heilen will. Er kommt als der ganz Offene, der ganz Wahrhaftige, der wahrhaft Liebende. Er kommt als das Licht der Welt. Und er bleibt es – in allen Bedrohungen durch Verwundungen. Sein Verhalten wird später nie einfach opportun sein, er wird den Menschen nie einfach nach dem Mund reden, schon gar nicht den Mächtigen; aber auch nicht denen, die ihre schlechten Angewohnheiten für gut verkaufen wollen. Er wird uns zeigen, wie wirklich aufrichtiges, sinnvolles und tiefes menschliches Leben gelingen kann – auch dann noch, wenn es tödlich verwundet wird. Weil seine Liebe heiler ist und stärker als der Tod. Hier in ihm ist Rettung, hier ist der Himmel gegenwärtig. Hier in Ihm dürfen wir glauben lernen: Was auch immer in der Welt mich verwundet hat und verwunden wird: Wenn ich bei Ihm bleibe, bleibe ich auch dort daheim, wo das Leben schon gesiegt, wo die Liebe schon gewonnen hat. Und es beginnt ein Prozess der Heilung.
Die Kirche als Ort der Heilung
Aber wie finden wir dahin? Wie gelingt uns das Bleiben mit Ihm? Liebe Schwestern und Brüder, ich bin überzeugt, dass es die Gemeinschaft und die Feiern der Kirche sind, die uns mit Ihm verbinden. Die Eucharistie als die Feier seiner Gegenwart, die Beichte als das immer neue Geschenk der Versöhnung und Rückkehr, das persönliche und das gemeinschaftliche Gebet als Übung des Vertrauens, des Bleibens; der Umgang mit dem Wort Gottes, um Ihn immer besser verstehen zu lernen – und vor allem auch der Dienst an meinem Nächsten, weil ich glaube, dass Jesus auch für jeden anderen Menschen Kind geworden ist und heilen will.
Wegbleiben oder dableiben? Bei IHM bleiben!
Viele Menschen neigen ja in unserer verwundeten Welt eher dazu, das religiöse Leben zurück gehen zu lassen, weil es ja irgendwie bei allen weniger wird oder auch weil deutlich geworden ist, dass die Kirche selbst auch verwundet ist und dass Menschen der Kirche auch andere verwundet haben. Sie bleiben weg – und sie haben ihre guten Gründe dafür. Aber, liebe Schwestern und Brüder, ich bin völlig gewiss, dass gerade das Weihnachtsgeheimnis in der Kirche immer noch da ist und da bleibt – trotz allem. Und dass es uns den Weg eröffnet in eine innere Heilung unserer Wunden. Hier, hier an der Krippe, in der Gegenwart des Kindes, ist Umkehr möglich, Veränderung der Herzen – durch die bleibende Anwesenheit Jesu. Und hier zuerst ist übrigens auch der Ort, wo die Heilung beginnt nicht nur für uns selbst, sondern auch für die Gesellschaft und unsere verwundete Schöpfung. Denn wir erleben es ja: Apelle werden die Welt nicht einfach besser machen, neue Gesetze womöglich schon, wenn dann der Druck steigt und mögliche Sanktionen drohen. Aber die eigentliche Quelle der Erneuerung ist immer der erneuerte Mensch, ist der Mensch mit einem Herzen, dessen Wunden heiler geworden sind durch die Salbung des Gesalbten, des kleinen Messiaskindes von Betlehem. Das wünsche ich Ihnen sehr, liebe Schwestern und Brüder – heute und an jedem Tag Ihres Lebens. Der Heiland ist da – Frohe Weihnachten.