Die Verankerung in der Volkskirche schwindet, die Auswirkungen sind auch in tief volkskirchlich geprägten Gegenden zu spüren. Doch was macht Kirche anziehend? Die Predigt von Bischof Stefan Oster zum Besuch im Dekanat Freyung-Grafenau 2015.
Lieber Herr Dekan, liebe Mitbrüder, liebe Schwestern und Brüder in Christus,
der Weg durch Ihr schönes Dekanat, die vielen Begegnungen mit Menschen machen mir große Freude. Man spürt, hier ist Kirche noch wichtig, hier ist der Glaube noch wichtig. Hier gibt es viele, viele Menschen, die sich einsetzen in unseren Pfarreien und Pfarrverbänden, in den Schulen, Kindergärten, in den Einrichtungen der Caritas und in vielen anderen kirchlichen Feldern und Bezügen. Das macht mich froh und dankbar.
Und ich darf auch nach außen immer wieder ehrlich sagen: Bei uns im Bistum da ist viel los an kirchlichem und gläubigem Leben. Und wenn ich nun im Folgenden eine fragende, auch kritische Analyse gebe, dann nicht deshalb, um dieses viele Gute klein- oder schlecht zu reden. Auch nicht, um irgendwen zu tadeln. Meine Dankbarkeit für alles Gute ist wirklich ehrlich und aufrichtig. Ich hoffe, Sie spüren das. Im Grunde geht es mir deshalb im Folgenden um ehrliche Bestandsaufnahme einerseits und dann darum, neue Sehnsucht zu wecken andererseits.
Volkskirche: Eine ehrliche Bestandsaufnahme
Denn dennoch, Schwestern und Brüder, wir alle spüren doch, überall im Bistum, ja mehr noch überall in unserem Land, dass es Veränderung gibt und Rückgang. Wir spüren, wie wir uns als Kirche mit den jungen Menschen schwer tun, wir spüren, wie die kirchlichen Vereine und Verbände um Mitglieder kämpfen. Wir spüren, dramatisch, wie die Realität von Ordensleben mehr und mehr aus der Kirche in unseren Breiten verschwindet. Und wir spüren den Mangel an Priestern sowieso, aber auch den Mangel an MitarbeiterInnen im pastoralen Dienst.
Wir spüren den Gläubigenmangel beim Kirchenbesuch. Wir ringen um die rechte Vermittlung der Sakramente etwa der Firmung, wir merken, dass die Beichte vielerorts weggebrochen ist. Die Zahl der kirchlichen Eheschließungen geht kontinuierlich zurück. Und die Zahl der Sterbenden überwiegt die Zahl der Täuflinge in der Regel bei weitem. Die Kirchenaustrittszahlen sind ohnehin erschreckend. Sind wir auf einem sinkenden Schiff? Bin ich vielleicht der Kapitän der Titanic? Kapitän auf einem Dampfer, der so groß und träge geworden ist, dass er die realen Gefahren für den Glauben und die Kirche nicht mehr sieht oder vielleicht viel zu spät und dann ist der Eisberg der Welt schon ans Schiff gekracht und bringt es zum Untergang?
Ursachenforschung zum Rückgang der Volkskirche
Liebe Schwestern und Brüder, die Ursachenforschung nach solchen Erscheinungen von Rückgang ist vielfältig. Die Veränderungen in der Gesellschaft, die Individualisierung, die Säkularisierung, der seit Jahrzehnten anhaltende Wohlstand, alles das und mehr wird angeführt. Und vielleicht ist die allgemeinste Antwort für uns zunächst einmal: Wir merken, dass unsere herkömmlich gewachsenen Formen und Strukturen; unsere Art und Weise, den Glauben lebendig zu halten, vielleicht insgesamt nicht mehr kräftig genug sind in der veränderten Welt.
Und wir haben in der Fläche wenigstens noch nicht die rechte Antwort auf diesen Säkularisierungstrend. Vielleicht werden wir eine kräftige Antwort in der Fläche auch nicht mehr finden. Viele sagen uns ja schon lange, wir verabschieden uns nach und nach von der Volkskirche. Auch bei uns in einem Bistum, das Gott sei Dank noch so stark von volkskirchlichen Strukturen geprägt ist. Das ist aus meiner Sicht gut und wichtig so und ich bin dankbar für alle, die mithelfen, dass die Dinge, die gut funktionieren auch so weitergehen können. Sie haben uns ja jahrzehntelang getragen.
Was macht uns anziehend?
Andererseits frage ich mich natürlich, welche Akzente wir setzen können, damit es wenigstens da und dort auch Wachstum gibt, damit wir anziehend werden, und zwar nicht einfach, damit es uns weiterhin gibt, sondern damit Menschen wirklich dem Herrn begegnen und neu anfangen aus dem Glauben an ihn zu leben; ja, damit Menschen Hoffnung schöpfen können und damit der Gott, an den wir glauben dürfen, verherrlicht wird.
In der Lesung haben wir einen Text aus der Apostelgeschichte gehört. Die Jünger legen vor dem Hohen Rat Zeugnis ab, obwohl sie mit ihrem Leben bedroht werden. Sie können unmöglich schweigen, von dem, was sie erlebt haben. Und die ganze Apostelgeschichte ist eine Erzählung davon, wie die Jünger unter dem Einsatz ihres Lebens hinaus in die Welt gehen. Und wovon erzählen und wovon Zeugnis geben? Genau, von Jesus. Sie bezeugen ihn voller Geist und innerer Kraft und sie bezeugen, was sie mit ihm erlebt haben. Schwestern und Brüder, müssten wir in schwierigen Zeiten wie den unseren nicht neu auf unsere Wurzeln schauen und uns einmal fragen, was hat denn einmal dazu geführt, dass die junge Kirche so gewachsen ist?
Sie haben von Jesus erzählt
Junge Kirche ist gewachsen, weil die Apostel und die ersten Verkündiger von nichts anderem erzählt haben, als von Jesus. Keiner ist raus und hat gesagt, lass uns eine Sozialstation bauen, lass uns Flüchtlinge aufnehmen, lass uns Krötenzäune aufstellen, lass uns fragen, wie man eine christliche Schule organisiert oder wie man die Friedensbewegung unterstützt, oder lass uns die nächste Fahnenweihe mit Gottesdienst organisieren. All diese Dinge sind wichtig und gut, und sie sehr oft Konsequenzen unseres Glaubens und unseres gläubigen Engagements in der Welt. Es ist wunderbar, dass wir das alles haben und tun. Ohne Frage.
Aber, Schwestern und Brüder, wenn wir gleichzeitig spüren, wie von innen her die Substanz des Glaubens wegbricht, und zwar in der Qualität und Tiefe einerseits, wie in der Breite und Fläche andererseits, dann spüren vielleicht wir selbst aber wohl mehr noch die anderen, dass unser Tun, unser Engagement nicht mehr so recht unterscheidbar ist von dem, was andere auch tun. Zum Beispiel von dem Guten, was die Arbeiterwohlfahrt in ihrem Bereich macht oder was der Sportverein in der Jugendarbeit macht. Und wenn sich das nicht mehr so recht unterscheidet, warum braucht es dann noch uns?
Eine Frage treibt mich um
Liebe Schwestern und Brüder, die Frage, die mich am allermeisten für unser wundervolles Bistum umtreibt, ist die Frage, warum wir es mit all unseren Mitteln, mit all unseren Strukturen, mit all dem Personal, das wir immer noch haben, warum bekommen wir es nur noch so selten hin, wirklich den Glauben zu bezeugen, wirklich Jesus zu bezeugen. Und zwar inhaltlich kraftvoll einerseits und spirituell andererseits. So, dass wir in der Tiefe erkennen und verstehen, wer Jesus ist. Wie er unter uns ist. Und wie er in unseren Herzen wirkt. Und wie er unser Leben erneuert und aufbaut und stärkt? So, dass wir gar nicht anders können, als neu anfangen Ihn zu lieben, weil wir immer mehr erkennen, dass er so großartig ist.
Liebe Schwestern und Brüder, ich nenne Sie alle so, weil wir in Jesus Schwestern und Brüder sind, in der Taufe auf ihn. Das ist eine echte, geistliche Realität und an uns ist es, diese Realität wieder neu lebendig werden zu lassen. Zum Beispiel ist es an uns, wirklich neu ein echtes, regelmäßiges tiefes Gebet einzuüben und zu lernen, Gebet mit ganzem Herzen und unserem ganzen Dasein. An uns ist es, sein Wort, die heilige Schrift wirklich neu in all ihren Reichtümern und Schätzen zu entdecken. An uns ist es, einander zu erzählen, sprachfähig zu werden in dem, was der Glaube, was Jesus wirklich in unserem Leben schon gewirkt hat und wirken will. Und wenn wir es einander erzählen, dann kann das wieder Sehnsucht in jedem von uns wecken.
Volkskirche werden: Erfüllt von der Sehnsucht nach Jesus
Wissen Sie, liebe Schwestern und Brüder, die ersten Apostel, aber auch die nachfolgenden Generationen, die waren so erfüllt von der Sehnsucht nach Jesus, auch von dem Gespür für seine Gegenwart, dass sie nicht anders konnten und wollten, als das auch zu verkünden und Gott dafür zu preisen. Sie waren überzeugt davon, dass jeder Jesus kennenlernen muss, um gerettet zu werden. Auch das bezeugt die Schrift. Und wir, heute, laufen Gefahr, nach und nach als Kirche in unserem Land einfach zu verschwinden; einfach deshalb weil vielleicht nur noch wenige da sind, die authentisch und kraftvoll und froh Zeugnis von Jesus geben wollen und können. Und weil die allermeisten vermutlich gar nicht mehr glauben, dass unsere Rettung von Jesus abhängt.
Aber ich bin tief überzeugt: Wir können es neu lernen, miteinander. Wir können beten neu lernen, wir können die Schrift neu entdecken. Denn wir sind ja schon in der Kirche. Wir gehören alle zu Ihm. Die Kirche ist sein geistlicher Raum, in dem das Wort da ist, in dem Jesus da ist. Und es gibt sie auch schon, die treuen Beter und die tiefen Jesuskenner unter uns, aber wir dürfen noch wachsen, wir dürfen noch Räume und Gruppen entstehen lassen, in denen das wirklich passiert: dass wir gegenseitig den Glauben erzählen und uns erschließen. Ich bin so überzeugt davon, dass wir nichts in unserer Kirche mehr nötig haben als: „mehr von Jesus“.
Jesus neu entdecken
Ich möchte schließen mit einem persönlichen Zeugnis, liebe Schwestern und Brüder, das ich auch nicht deshalb geben will, um mich als besonderer Christ hinzustellen. Vor dem Herrn ist letztlich jeder gleich und der Herr kennt auch meine Sünden und Durchschnittlichkeiten sehr genau. Aber ich darf sagen, irgendwann ist Jesus neu in mein Leben getreten. Und fortan wollte ich immer wieder wissen, wer er ist und wie er ist und wollte in der Freundschaft zu ihm wachsen. Und ich darf Ihnen sagen, liebe Schwestern und Brüder, der Herr ist derjenige, der wirklich erfüllt, der wirklich Freude ins Herz schenkt und Frieden und Sinn.
Die Freude des Evangeliums
Es ist nicht immer leicht, das hat er auch nicht verheißen. Aber seither weiß ich aus tiefstem Herzen: Wir Christen sind diejenigen, die den Sinn der Welt kennen, wir sind die, die immer neu Vergebung für all den Schmarrn geschenkt bekommen, den jeder von uns auch macht. Wir sind die, die in jeder Eucharistie buchstäblich etwas von ihm schmecken dürfen, damit er in uns wachsen kann.
Unser Papst Franziskus hat in seinem großen Schreiben „Evangelii Gaudium“ im ersten Satz gesagt: „Die Freude des Evangeliums erfüllt das Herz und das ganze Leben derer, die Jesus begegnen.“ Ich kann diesen Satz vollen Herzens unterschreiben. Und ich bin überzeugt, Kirche fängt da an, neu zu werden, jung zu werden, zu wachsen, wo es Menschen neu geschenkt wird, aus dieser Erfahrung zu leben. Ich gönne sie Ihnen allen von ganzem Herzen und will mein Möglichstes tun, damit Sie alle erfahren dürfen, wovon ich spreche und wovon sicherlich einige andere hier in der Kirche auch sprechen könnten. Jesus ist der letzte, der eigentlich, der tiefste Grund warum wir hier sind. Und er ist auferstanden, er lebt, mitten unter uns. Hallelujah.