Von der Liebe, die umsonst ist – zu Ehren von Ferdinand Ulrich

Die Predigt von Bischof Stefan Oster beim Begräbnis von Ferdinand Ulrich in der Pfarrkirche St. Nikolaus in Mühldorf am Inn am 21. Februar 2020.

Liebe Familie Ulrich, liebe Schwestern und Brüder im Glauben, die Sie Freunde, Bekannte, Weggefährten, Verehrer von Ferdinand Ulrich sind,

Hans Urs von Balthasar, einer der großen Theologen des letzten Jahrhunderts und enger Freund und Bruder im Geist unseres Verstorbenen, schrieb dem jungen Philosophen Ferdinand Ulrich im Jahr 1964 einen Brief, in dem er sich für ein Manuskript bedankt. Es ging darin um das Thema der Macht und Balthasar schreibt wörtlich: „Wie Sie einem immer wieder sanft unerbittlich alle Hüllen wegziehen. Wir werden lernen müssen, Sie auszuhalten. Ich habe Eckhart und Tauler gelesen und irgendwo sind Sie eine Fortsetzung dieser Geburtszeit deutscher Geistheit.“

Wir werden lernen müssen, Sie auszuhalten! Was für ein Satz für einen jungen Gelehrten von einem damals schon weltweit berühmten Theologen. Und Balthasar sagt mit seinem Hinweis auf die beiden großen Mystiker Meister Eckhart und Johannes Tauler auch noch, wie tief, wie abgründig ihm das Denken des jungen, aber offensichtlich sehr früh denkerisch gereiften Ferdinand Ulrich erschien. Wir werden lernen müssen, Sie auszuhalten!

Der rote Faden für Ferdinand Ulrich: die Liebe

Verehrte, liebe Trauergäste, aus meiner Kenntnis und Freundschaft und persönlichem Erleben war genau dies auch wie eine Art roter Faden im Leben unseres Verstorbenen. Er hat immer wieder erfahren, dass viele gerade nicht lernen wollten, ihn auszuhalten. Er hat es einem nicht leicht gemacht, vor allem nicht in seinen oft schwer zu lesenden Schriften. Aber auch nicht als ein Mann, der sich nie mit Oberflächlichkeit begnügt hat, der tatsächlich auch menschliche Abgründe erkundet hat und in all ihrer Fraglichkeit ins heilende Licht der Wahrheit halten wollte, auch seine eigenen.

Und nicht wenige vor allem von den akademisch tätigen Kolleginnen und Kollegen, wollten oder konnten sich auf das, was er gedacht oder zu sagen hatte, nicht einlassen. Freilich: wenn diese Erfahrung ein roter Faden in seinem Leben ist, dann ist sie dennoch nur ein Symptom, eine fast notwendige Erscheinungsform eines tieferen Grundes, der sein Leben noch viel stärker geprägt hat: In der Lesung aus dem Römerbrief haben wir die Überzeugung des Paulus gehört, die auch die Überzeugung des Verstorbenen war: „Nichts kann uns scheiden von der Liebe Christi…. Gott hat uns seinen einzigen Sohn geschenkt, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ (vgl. Röm 8,31-39)

Ferdinand Ulrichs Grundthema in allem war immer die Liebe, die Liebe des Vaters, aus der die Welt geschaffen ist und erhalten bleibt. Die Liebe Christi, aus der wir erlöst sind von unseren Sünden und teilnehmen dürfen am göttlichen Leben und die Liebe des Heiligen Geistes, der uns erleuchtet, der uns führt, der uns heiligt. Immer und immer wieder die Liebe.

Die doppelte Bedeutung von „umsonst“

Und immer und immer wieder geht es darum, dass eben diese Liebe umsonst ist. Das Umsonst der Liebe in der doppelten Bedeutung dieses Wortes „umsonst“; nämlich in der Bedeutung gratis, als Geschenk, das nichts kostet, einerseits. Und andererseits in der Bedeutung vergeblich, frustra, völlig umsonst. Eine solche Liebe, die sich umsonst verschenkt, bringt doch nichts in den Augen einer Welt der Berechnung, des Profits, des Vorteilsdenkens, der Egozentrik. Und eine solche Liebe, die mir am Ende nichts bringt, ist doch vergeblich, eben umsonst, sagt diese Welt.

Aber beide Aspekte ein und derselben Liebe zeigen sich am tiefsten in Jesus, den der Verstorbene so oft die „gekreuzigte Liebe“ genannt hat. Die Jünger des Herrn, die am Karfreitag alle vor dem Kreuz davon gelaufen sind, aus Angst und Feigheit, sie werden damals wohl gedacht haben: „Jetzt war alles umsonst, alles vergeblich, jetzt ist er tot, hängt da wie der allerletzte Verbrecher“.

„Mein Tod ist ein Geschenk für euch“

Und Jesus sagt im selben Moment mit der Radikalität seiner Hingabe eben dieses: „Ja, mein Tod ist ganz umsonst, ein Geschenk für Euch, das tiefste Liebesgeschenk, das Gott je der Welt gemacht hat.“ Wer aus der Tiefe seines Herzens Ja sagen kann zum Gekreuzigten, der sagt Ja zu einer Liebe, die sich umsonst verschenken, die sich wegschenken kann, ohne sich selbst noch einmal festhalten zu müssen.

Ein durch Christus Berührter spürt, dass sich auch in jedem von uns diese Liebe nur auswirken kann, wenn sie in derselben Weise verschenkt wird. In der Einheit von gratis und frustra, eben umsonst. Und das heißt: wir müssen damit auch lernen, den Gekreuzigten auszuhalten – und mit ihm lernen, diese Liebe zu leben. Und Ferdinand Ulrich hat seit ich ihn kenne, nie etwas anderes gesagt, geschrieben und zu leben versucht, als direkt oder indirekt auf die gekreuzigte Liebe hinzuweisen. Deshalb wird jeder, der sich auf ihn als Mensch und als Denker einlässt, tatsächlich auch lernen müssen, ihn auszuhalten.

Arm vor Gott

Denn kraft seiner immensen philosophischen Intuition und Begabung war es ihm nun auch als Philosoph gegeben zu zeigen, dass die gekreuzigte Liebe nicht nur die tiefste Offenbarung über Gott enthält. Aus ihr entfaltet sich zugleich die tiefste Einsicht in die Wirklichkeit der Welt und über den Menschen. Auch das geschaffene Sein, auch das geschaffene Leben der Welt ist ursprünglich aus Liebe gegeben, ganz umsonst. Und der Mensch findet eben dann in einen befreiten, erlösten Lebensvollzug zurück, wenn er lernt aus der Liebe zu leben, die umsonst ist, aus einem Ja zu sich selbst, das umsonst ist.

So ein Mensch lernt leben aus einer Liebe, die nicht besitzergreifend ist, die sich vielmehr wegschenken kann; aus einer Liebe, die sich öffnet, die sich verwundbar macht; die mitleiden und mittragen kann; aus einer Liebe, die im Hier und Heute vertrauen kann, dass der Urgrund der Welt Liebe ist und Liebe bleibt – selbst noch in den Erfahrungen weltlicher Katastrophen und Zusammenbrüche. Wer diese Liebe leben will, wer in den überfließenden Strom dieser Liebe hineinfinden will, muss lernen loszulassen. Er muss lernen, innerlich arm zu werden, um für den Reichtum des Liebesgeschenkes offen zu sein.

Deshalb auch hat der Verstorbene die erste Seligpreisungen aus der Bergpredigt so geliebt, weil dort zuallererst diejenigen als selig, als glücklich gepriesen werden, die arm sind im Geist, arm vor Gott. Ein Mensch, der in dieses Geheimnis finden möchte, wird auch lernen müssen, dass er das Vertrauen zum Gekreuzigten braucht, damit dieser die eigene Herzenstür wieder aufmachen kann – für die Bewegung, für das Fließen dieser Liebe – und damit auch für das Erleben einer Freude, die tiefer reicht als alles, was die Welt alleine geben könnte.

Lernen, auszuhalten

Allerdings: Wenn wir in diesen inneren Ort des Vertrauens auf Christus nicht hineinfinden wollen, dann bleiben wir beständig dazu geneigt, uns selbst etwas vorzumachen. Auch das kennt jeder von uns: Wir neigen dann vor allem dazu, unsere eigenen Selbstideale oder auch unsere eigenen ich-haften Wünsche und Begierden wie Liebe aussehen zu lassen – und bleiben doch Gefangene des Kreisens um unser eigenes Ego.

Ferdinand Ulrich hat zugleich immer und immer wieder zeigen können, wo die Versuchungen im Leben und Denken jedes Einzelnen sind. Und er konnte dies zeigen im persönlichen, vertrauensvollen Gespräch, mit einem Charisma der Herzensschau für den anderen. Aber ebenso konnte er es im streng philosophischen Denken.

Wo sind die Tücken auch eines Denkens, das sich am liebsten immer in sich selbst festmachen oder sich selbst bestätigen und die eigenen Erfolge feiern will? Oder wo wollen wir konkret der Liebe ausweichen und unser eigenes Süppchen kochen? Wo weigern wir uns aus Bequemlichkeit oder Furcht, ein Kreuz zu tragen, das uns reifer machen würde? Ja, es stimmt schon: Auch wenn der Professor ein so zugewandter und liebenswerter Freund und Bruder war; trotzdem: all das muss man auch lernen auszuhalten.

In die Freude führen

Was es mir aber leicht gemacht hat, ihn auszuhalten: Seine Barmherzigkeit, seine Treue im Kleinen, seine unbedingte Liebe zur Wahrheit, seine Zuwendung, sein Zuhören, seine Fähigkeit, wirklich beim anderen zu sein, bei seinem Gesprächspartner. Auch war es für mich seine Liebe zu Christus, und seine Freundschaft mit den Heiligen, besonders mit Therese, der Kleinen von Lisieux. Und seine Sehnsucht zusammen mit dem Heiligen Geist zu sprechen und zu handeln.

Ich habe immer gespürt: Nie ging es ihm darum, dass der Gesprächspartner auf ihn, auf den Professor bezogen bleiben sollte, nie wollte er, dass die Studenten oder die von ihm Begleiteten seine Thesen deshalb wiederholen, weil es seine waren. Nie wollte er jemanden für sich selbst vereinnahmen. Aber immer wollte er zusammen mit dem anderen auf die Wirklichkeit hinsehen und verstehen lernen, was wahr ist, was gut ist für den anderen, was in die Freude führt – auch dann noch, wenn die Selbsterkenntnis weh tut.

Ferdinand Ulrich ein Lernender: Loslassen lernen

Und Zeit seines Lebens hat sich der weise Mann selbst als Lernender begriffen. Auch zuletzt bei meinen Besuchen im Pflegeheim hat er immer wieder Sätze gesagt wie: Ich muss jetzt lernen, das anzunehmen. Oder: Ich muss jetzt lernen, das loszulassen. Dieses Loslassen ging bis dahin, als er spürte, dass seine Geisteskraft nachließ, dass er auch diese noch aus Liebe zu Christus und zu den Menschen und für die Kirche lernen wollte, loszulassen.

Und immer wollte er auch aus Liebe sterben, aus Liebe zum Herrn. Er hatte keine Angst vor dem Tod, vielmehr oft schon eine Sehnsucht danach, endlich hinüber gehen zu können. Aber wenn er eine Befürchtung hatte, dann immer die: Zu wenig geliebt zu haben. Ja, lieber Professor, um Sie in solchen Aussagen tiefer und existenziell verstehen zu können, muss man bei Ihnen stehenbleiben, mit Ihnen aushalten und arm werden im Geist.

Das Geheimnis der Stellvertretung

Und wenn ich sagte, liebe Schwestern und Brüder, dass er sein Loslassen auch für die Kirche, für die Menschen einüben wollte, dann wird am Leben Professor Ulrichs noch ein Geheimnis sichtbar, das ins Innerste der Kirche gehört: Das Geheimnis der Stellvertretung.

Mancher von Ihnen fragt sich vielleicht, was das bedeuten mag, wenn wir zum Beispiel sagen, Christus ist für uns gestorben. Er hat für uns die Sünde und den Tod besiegt. Was hab denn ich mit dem Gekreuzigten zu tun? Nun: Umgekehrt kennt jeder von uns schon rein menschlich das Phänomen, dass es einem leichter wird, wenn ein treuer Mensch das eigene Leiden mitträgt. Ein Mensch, dem ich mich anvertrauen, dem ich meine Verwundungen oder mein Leiden mitteilen kann. So ein Mensch trägt mich buchstäblich mit und es kostet ihn auch etwas, es kostet Zeit, Kraft, Geduld, es ist ein Mitleiden mit dem anderen. Christus hat dieses Mittragen der ganzen Menschheit und sein Mitleiden mit ihr sein qualvolles Leiden verursacht und es hat ihn buchstäblich das irdische Leben gekostet.

Aber im Maß, in dem wir in die Freundschaft mit Christus hineinfinden, in dem Maß dürfen wir auch erfahren, wie er auch uns hält. Und mitträgt und für uns mitleidet und immer wieder vergibt. Und zwar unverlierbar! Nichts kann uns trennen von der Liebe Christi!

Ein Teilnehmer an der Stellvertretung Christi

Und dieser Jesus Christus schickt uns auch immer wieder Menschen, die an diesem Geheimnis seiner Stellvertretung teilnehmen und es darin bezeugen. Und Ferdinand Ulrich war und ist so ein Mensch. Er hat mit Jesus teilgenommen am Leben und Leiden der Menschen und der Kirche, die er so tief in der Person der Gottesmutter geschaut und geliebt habt.

Und ich bin sicher, dass er in dieser Teilnahme am Kreuz Christi vielen geholfen hat, ob es die vielen wissen oder nicht. Aber er war in der Kraft Christi ein Kreuzträger in dieser Welt für viele von uns. Wissen Sie: Wenn wir uns einmal im Himmel wiedersehen sollten, was ich für uns alle erhoffe, dann werden uns wirklich Herzen und Augen und Ohren übergehen, wenn wir wahrnehmen dürfen, wer dort alles für uns stellvertretend und mitleidend gekämpft und geliebt und gebetet und gelitten hat, damit auch wir dort sein können.

Und ich bin sehr sicher, dass vielen von uns erst dann deutlich werden wird, wie sehr auch Ferdinand Ulrich unter diesen Mittragenden und Betenden für sie war. Und er wird dieser Beter jetzt wohl auch weiterhin für viele von uns bleiben, womöglich jetzt erst recht.

Pilgerbruder Ferdinand Ulrich: Staunen über die Herrlichkeit des Himmels

Und natürlich wird auch er selbst diese Erfahrung nun machen dürfen: Wer wird da wohl alles auch für ihn mitgekämpft haben, damit er jetzt dort ist. Und ich stelle mir gerade vor, wie er seine lieben Eltern wieder trifft. Aber auch wie er jetzt endlich auch mal den Thomas von Aquin trifft und den Augustinus und die kleine Therese und so viele andere. Oder auch seine alten Weggefährten, den Pater Wilhelm Klein zum Beispiel oder den Hans Urs von Balthasar oder den Pater de Lubac und viele mehr.

Und ja, lieber kleiner Pilgerbruder Ferdinand, ja darauf freue ich mich auch jetzt schon: Wenn viele von uns dann einmal beieinander sein werden und dem Herrn begegnen dürfen und ihn und seine Majestät und Größe und seine Demut und Liebe schauen dürfen, was wird das für ein Fest sein, was für eine Freude! Und wenn ich mich frage, ob wir dann noch immer philosophieren werden im Himmel, dann vielleicht in diesem Sinn: Jeder von uns sieht staunend immer noch einen weiteren Aspekt von der Herrlichkeit Gottes und von der Herrlichkeit des Himmels und jeder darf den anderen auf das hinweisen, was er noch alles sieht an dieser unfassbaren Unerschöpflichkeit und Schönheit.

Ja, das wird ein Fest werden, mit Ihnen zusammen die überfließende Fülle der Wahrheit und der Liebe Gottes erleben zu dürfen. Machen Sie es gut, lieber alter Freund, lieber geistlicher Vater, lieber kleiner Pilgerbruder von Jesus. Und bitte kämpfen und beten Sie noch weiter für uns alle – damit wir dann im Himmel miteinander staunen und spielen und tanzen können wie die Kinder  – vor dem Allerhöchsten, vor unserem Vater. Ihm sei alle Ehre heute und in Ewigkeit. Amen.


Weitere Informationen zu Ferdinand Ulrich finden Sie hier: Ferdinand-Ulrich-Archiv.