Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
„Öffne dich!“ – so spricht Jesus den Taubstummen an – nachdem er ihn von der Menge der Menschen weggeführt hatte. Und er berührt ihn, wie wir gehört haben, mit seinen Fingern an den Ohren und auf der Zunge mit seinem eigenen Speichel. Und der Leidende öffnet sich – vielmehr, so wird gesagt, wird seine Zunge befreit von Fesseln, er kann wieder sprechen und wieder hören. Herr Fahnenbruck und Frau Dr. Pichlmeier haben mit ihren eindrucksvollen Texten diesen Ruf „Öffne dich“ in den großen Horizont einer Interpretationsgeschichte dieses Textes gestellt. In diesem Horizont ist die Geschichte immer weiter gelesen und gedeutet worden, als nur im Blick auf eine unmittelbare Behinderung eines Taubstummen.
Denn wir alle wissen: Offenheit, sich öffnen, ist in der Tiefe eine Herzensangelegenheit. Berühren und sich berühren lassen sind Herzensbewegungen. Der Mensch ist in der Tiefe angesprochen oder angerührt. Der Mensch ist in der Lage, in der Tiefe andere zu berühren, andere in die Offenheit zu führen. Und tatsächlich ist ja „Offenheit“ so ein großes, unglaublich positiv besetztes Wort. Wir alle sehnen uns nach offenen Menschen, vor allem offenherzigen Menschen. Denn unsere Ur-Erfahrung als Menschen ist ja normalerweise davon geprägt, dass wir einen allerersten Halt in dieser Welt im offenen Herzen eines anderen Menschen haben. Im Normalfall im Herzen der Mutter, die ihr Kind in sich nicht nur leiblich nährt und wachsen lässt, sondern es mit ihrer ganzen Menschheit, mit Leib um Seele umhüllt und trägt. Wir sind nicht einfach – wie der Philosoph Martin Heidegger behauptet – in die Welt geworfen. Wir sind normalerweise vielmehr vom offenen Herzen gehalten und umhüllt.
Und deshalb ist auch ein kleines Kind aus sich selbst heraus von Natur aus ganz offen. Denn wer sich im offenen Herzen eines anderen aufhält und halten lässt, dem erweist sich dieser Halt tatsächlich nur, wenn er selbst sich öffnet oder öffnen lässt. Kinder sind also von Natur aus ganz offen auf diese Welt hin. Und wenn wir darüber nachdenken und es auf unser Thema von heute hin beziehen, dann merken wir sofort, dass Offenheit nicht einfach nur etwas ursprünglich ganz Positives ist, sondern auch eine andere Seite hat. Denn wer wirklich herzensoffen ist, ist verletzbar. Herzensoffenheit gibt es ja nicht ohne Vertrauen. Wir sprechen gerade bei Kindern viel vom Urvertrauen, das einerseits bei ihnen schon ganz natürlich da ist, das sich aber in der Erfahrung mit der Welt und den Begegnungen mit den Menschen, die vor dem Kind da waren, vertiefen und wachsen kann – und so nötig ist für eine gesunde Entwicklung.
Das heißt: Gerade bei Kindern und jungen Menschen gibt es eine selbstverständliche Art, sich anderen anzuvertrauen, vor allem Erwachsenen. Sie leben ja letztlich davon, dass sie von Zuwendung und Offenheit getragen werden. Daher ist ihre Verwundbarkeit umso größer – eine Verwundbarkeit durch Verrat, durch Lüge, durch Mangel an Verlässlichkeit, durch Manipulation – und natürlich auch durch Missbrauch, sei es durch psychische oder physische oder eben sexuelle Gewalt. Die Wahrheit ist deshalb, dass sich Menschen jeden Alters, die missbraucht worden sind, vor allem aber Kinder und Jugendliche, ihre Fähigkeit zur Offenheit und zum Vertrauen dramatisch einbüßen und nicht selten in sich selbst eingeschlossen werden. Viele haben einen langen, oft lebenslangen Weg zurück zur neuen Offenheit; und das heißt zur Fähigkeit, anderen, sich selbst und der Welt zu vertrauen.
Eben deshalb spüren wir, dass unsere Betroffenen von sexuellem Missbrauch in der Kirche so sehr die Frage umtreibt: Können wir Euch bei der Kirche wirklich vertrauen? Und wir spüren auch, dass es dabei zwar besonders um uns Amtsträger und Verantwortliche geht. Aber wir erkennen mehr und mehr auch, dass es um uns alle in der Kirche geht. Es gab ja so häufig auch Mitwisser von Missbrauch oder bewusst Wegschauende. Es gab oder gibt oft ein kirchliches Milieu, eine Atmosphäre, in der Missbrauch begünstigt worden ist. Und zu so etwas gehören ja immer mehrere Menschen.
Daher ist die Frage an uns alle heute: Schaffen wir es als Kirche immer wieder neu, Orte des Vertrauens zu eröffnen? Schaffen wir es, unsere eigenen Herzen so zu öffnen, dass sich missbrauchte Menschen nicht von neuem missbraucht oder manipuliert fühlen? Kann es gelingen, dass Kirche für Menschen mit Missbrauchserfahrungen tatsächlich zum heilsamen Ort wird? Ich würde antworten wollen: Aus unseren eigenen Anstrengungen heraus schaffen wir es nie. Das bedeutet aber nun auch wieder nicht, dass wir es von uns aus deshalb nicht versuchen müssten. Vielmehr sind wir verpflichtet mit all den Kräften, die wir haben, auch unseren Teil dazu beizutragen und das, was uns möglich ist, zu versuchen in Offenheit und Transparenz miteinander umzugehen, für Betroffene da zu sein und Vertrauen wieder zu gewinnen.
Aber, liebe Schwestern und Brüder, diese Unfähigkeit, es sehr grundsätzlich zu schaffen, verweist uns dann hoffentlich auf den Grund, aus dem wir alle wirklich Kirche sind. Und es ist der einzige Grund, aus dem wir Kirche sind: nämlich der Gekreuzigte. Wir feiern heute den Christkönigssonntag. Und die Liturgie der Kirche hat uns diesen König im heutigen Evangelium als den Gekreuzigten vorgestellt. Über ihm, so sagt der Evangelist, hängt das Schild, das sagt: „Der König der Juden“. Sie verspotten ihn deshalb. „Das soll ein König sein? Dann soll er sich doch wohl selbst helfen!“
Aber, liebe Schwestern und Brüder, das Evangelium sagt uns: Hier hängt das gottmenschliche, das offenste Herz für die ganze Welt am Kreuz. So offen, dass es sich radikal und tödlich verwundbar gemacht hat. Das verwundete Herz von uns Menschen, das verschlossen ist aus Angst vor neuer Verwundung, aus Angst vor neuem Missbrauch, findet letztlich nur in diesem Herzen des Gekreuzigten Heilung in der Tiefe. Aber auch das verschlossene Herz, das sich aus Egoismus anderen nicht mehr öffnen kann, unser eigenes verschlossenes Herz, findet nur in diesem Herzen des Gekreuzigten Heilung in der Tiefe. Wir alle finden nur in diesem Herzen in das Vertrauen, das es wirklich eine Heilung gibt, die tiefer reicht als nur ein äußeres Heilsein. Der Schächer am Kreuz, der sich bekehrt, der einsieht, dass er Unrecht getan hat und der sich in seiner letzten Stunde an Jesus wendet, mit der Bitte an ihn zu denken, wenn Jesus in sein Reich kommt, der bekommt eine unfassbare Antwort. Und diese Antwort zeigt, dass der sterbende, gefolterte, ausgezehrte Gekreuzigte wirklich ein König ist. Er ist ein König eines Reiches, nach dem wir uns alle sehnen – und er sperrt dem Verbrecher neben sich sterbend die Tür in dieses Reich auf, er sagt ihm gewissermaßen das entscheidende „Effata“ seines Lebens: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.
Liebe Schwestern und Brüder, ich bete und bitte den Herrn immer wieder, dass er in uns neu aufzugehen beginnt, wenn wir als Kirche mit Menschen zu tun bekommen, die Missbrauch erleiden mussten. Wir wollen wirklich das unsere tun, doch wenn wir es alleine tun wollen, dann wird es niemals genug sein. Aber wenn wir unsere eigene Offenheit für die Leidenden lernen aus der Herzenswunde des Gekreuzigten und wenn wir Ihm darin Raum geben, dann kann ER jedem und jeder von uns mehr als genug geben. Letztlich ist nur bei IHM, dem Offensten von allen Offenen, Versöhnung zu finden. Amen.