Bild: Pressestelle Bistum Passau

Was ist Wirklichkeit? Fronleichnam 2015

Was ist für Sie Wirklichkeit? Was Wirklichkeit mit Vertrauen und Liebe zu tun hat – und wie wir den tiefsten Grund gegen die Angst finden. Die Predigt von Bischof Stefan Oster zum Fest Fronleichnam im Passauer Stephansdom 2015.

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
ich möchte mit einer philosophischen Frage beginnen: Was ist für Sie die Wirklichkeit? Jeder, der diese Frage auch nur ein wenig an sich heranlässt, spürt, dass es beides ist: Einerseits scheinbar etwas ganz Einfaches, fast Banales. Wirklich ist die Welt, in der wir leben, die wir sehen, anfassen, messen und wiegen können, in der wir uns bewegen. Das scheint für jeden gleich.

Andererseits spüren wir aber auch: Wirklichkeit ist etwas zutiefst Komplexes, nicht wirklich Fassbares. Wenn Wirklichkeit nämlich nur das Sichtbare, das Greifbare wäre, was wäre dann zum Beispiel mit unseren Gefühlen? Oder mit unserem Denken, mit unseren Überzeugungen? Ist Freundschaft nicht etwas Wirkliches? Ist Liebe, ist Treue, ist Freude nicht etwas zutiefst Wirkliches?

Wirklichkeit ist mehr als wir fassen können

Aber, so können wir fragen, ich kann doch Freundschaft nicht anfassen? Richtig: Ich kann nur darin leben, ich kann es nicht greifen und auch nicht messen. Und trotzdem ist für die meisten Menschen so etwas wie Freundschaft, Liebe, Verlässlichkeit des Anderen das Wichtigste im Leben – und damit auch das am meisten Wirkliche.

Stellen Sie sich Ihre eigene Welt vor ohne dass Sie jemand gern haben und ein anderer Sie, nehmen Sie alle ihre Beziehungen zu anderen heraus, dann bliebe doch im Grunde eine tote, eine unwirkliche Welt übrig! Und das obwohl sie doch so wirklich scheint, in ihrer Greifbarkeit.

Beziehungserfahrungen bestimmen Wirklichkeit

Unsere Erfahrungen in Beziehungen machen also sehr massiv etwas von unserer komplexen Welt aus, die wir Wirklichkeit nennen. Und sehr viel von dem, was unser Handeln bestimmt, basiert darin auf Vertrauen. Wir kümmern uns beispielsweise um unseren Freund oder unseren Ehepartner auch auf der Basis, dass wir vertrauen, dass er uns treu ist.

Wüssten wir dagegen, dass er uns ständig hintergeht und betrügt, würden wir anders handeln, dann würden wir misstrauisch werden oder wir würden die Beziehung in Frage stellen, wir würden unglücklich werden oder anderes mehr. Aber wir vertrauen, dass es anders ist und im Vertrauen erleben wir diese Wirklichkeit auch und deshalb handeln auch wir selbst als fürsorgende Freunde in der Beziehung.

Vertrauen leitet unser Handeln

Liebe Schwestern und Brüder: Vertrauen ist etwas, was zutiefst unser ganzes Leben bestimmt und unser Handeln leitet. Wir vertrauen beispielsweise, dass unser Staat einigermaßen sicher und gerecht ist. Wir wissen es aber nicht, weil wir gar nicht alle Einzelheiten kennen. Wir vertrauen zum Beispiel, dass unser Auto auch sicher fährt, obwohl wir vorher nicht die Einzelheiten des Motors untersucht haben. Oder wir vertrauen, dass unsere Arbeitskollegen verlässliche Mitarbeiter sind, obwohl wir sie nicht alle durch und durch kennen.

Wir gehen selbst eine Aufgabe an und vertrauen, dass wir es schon hinbekommen werden, obwohl wir genau das noch nie gemacht haben. Wir sehen an so vielen Beispielen: der Mensch ist ein Wesen, das vom Vertrauen lebt. Unser Vertrauen in so viele Dinge ist Grundlage für unser Leben und Handeln.

Angst und Misstrauen

Wäre es umgekehrt, würde unser Leben dauernd von Angst und Misstrauen dominiert, wie könnte es je zufrieden sein? Und tatsächlich kennen wir Menschen, die in ihrem Leben und in ihren Beziehungen so viele Verletzungen und Enttäuschungen erfahren haben, dass sie voller Angst und Misstrauen durch die Welt gehen, oft gar nicht anders können. Ihnen ist das Vertrauen abhanden gekommen in die Verlässlichkeit der Wirklichkeit und der Menschen. Sie haben Angst.

Liebe Schwestern und Brüder, die wichtigste Herzenshaltung auch in dem was wir Glauben nennen, ist Vertrauen. Wir vertrauen darauf, dass die Wirklichkeit sich nicht erschöpft im bloß Materiellen, auch nicht nur in unseren eigenen Emotionen und Überzeugungen und Beziehungen.

Es gibt einen tiefsten Grund der Wirklichkeit: Liebe

Als gottgläubige Menschen vertrauen wir, dass es einen letzten und tiefsten Grund der Wirklichkeit gibt, von dem alles Wahre und Gute kommt, einen letzten Grund, der Liebe ist. Der Gläubige verlässt sich auf diesen Grund und er sieht alle anderen Beziehungen auch in diesen Grund eingebettet. Gott ist unser Vater. Christus ist unser Herr und Bruder. Wir gehören zu Ihm.

Gott ist für den Gläubigen die Wirklichkeit schlechthin, die Wirklichkeit aller Wirklichkeiten. Der gläubige Mensch will immer neu vertrauen, dass alles Gute, Wahre und Schöne letztlich von dorther kommt, von Ihm. Und wenn ein gläubiger Mensch dann doch in dieser Welt belogen und verletzt wird, dann weiß er, dann vertraut er, dass auch Lüge und Leid und Verletzung nicht das letzte Wort haben.

Der durchbruch gegen Angst, Leid und Tod

Er vertraut, dass er ins Leben selbst gehört. Christus hat uns in der Eucharistie das tiefste Zeugnis der Liebe Gottes hinterlassen. Sein Tod am Kreuz und seine Auferstehung waren der Durchbruch. Der Durchbruch gegen die Angst, das Leid und der Tod könnten das Ende sein und das letzte Wort haben.

Sie waren der Durchbruch gegen den Verdacht, dass sich Vertrauen nicht lohnen könnte. Sie sind der Durchbruch für uns, die wir im Glauben mit der Gewissheit beschenkt werden, dass wir unser Leben auf Ihn bauen dürfen. Und sie sind der Durchbruch für alle, die in dieser Welt Angst haben vor allem Möglichen, vor allem vor der Erfahrung, dass sich die Erfahrung von Wirklichkeit in ihren Beziehungen als nichtig herausstellen könnte. Jesu Tod und Auferstehung schenkt Nahrung für unsere verängstigte Seele, die sich oft so schwer tut mit dem Vertrauen.

Wir wollen unser Leben nach der eigentlichen Wirklichkeit ausrichten

Deshalb, liebe Schwestern und Brüder, gehen wir heute betend hinter dem Allerheiligsten her: Wir zeigen damit, dass wir unser Leben nach ihm ausrichten wollen, nach der eigentlichen Wirklichkeit. Wir wollen damit zeigen, dass wir einen Gott kennen und lieben, dem wir folgen; einen Gott, dem wir vertrauen, weil er uns liebt. Einem Gott, der uns Orientierung schenkt. Wir folgen ihm, weil wir glauben, dass er der Hirte schlechthin ist. Wir versuchen uns ihm zu überlassen, weil wir glauben, dass er uns Wandlung schenkt.

Er hat das eucharistische Brot, das wir heute durch unsere Stadt tragen, in seine Gegenwart gewandelt. Er ist darin gegenwärtig geworden, damit sich unsere Seele in eine vertrauende Seele wandelt, in der er auch gegenwärtig sein darf. Wir danken ihm von Herzen dafür, dass er uns immer neu zeigt, was Wirklichkeit im tiefsten Sinn bedeutet. Lasst uns ihm folgen. Hier in der Kirche und auf unseren Straßen durch unsere schöne Stadt und durch unser ganzes Leben. Amen.