Momentan werden in Deutschland Entwürfe eines neuen Selbstbestimmungsgesetz diskutiert. Dieses hat – so Bischof Stefan Oster – zutiefst mit der christlichen Anthropologie – den Menschenbild – zu tun, das auf dem Verständnis des biblischen Hintergrunds liegt. Zur „Anthropologie der Transformation“ gibt Bischof Oster biblisch-theologische Anmerkungen in der September-Ausgabe der Herder Korrespondenz.
Christliches Menschenbild
Mir ist bewusst, dass es im Gesetzesvorhaben nicht um medizinische Maßnahmen oder Eingriffe geht, etwa für eine Angleichung an ein anderes Geschlecht. Der Entwurf strebt an, die Selbstbestimmung der betroffenen Personen hinsichtlich der Geschlechtszuordnung und der Vornamenswahl zu stärken sowie „das Recht jeder Person auf Achtung und respektvolle Behandlung in Bezug auf die Geschlechtsidentität zu verwirklichen“. Da in der Frage nach der Selbstbestimmung aber direkt oder indirekt auch grundlegende anthropologische Fragen einfließen, sind auch medizinische Folgefragen zumindest mitbedacht.
Die katholische Kirche gewinnt ihr Menschenbild aus allem, was menschliches Leben ausmacht. Das Zweite Vatikanische Konzil formuliert das programmatisch zu Beginn der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ (GS, Nr. 1): „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.
Ohne Frage taucht in unserer bewegten Zeit als neues Phänomen eine sich häufende Erfahrung von Menschen auf, die sich in ihrem biologischen Geschlecht nicht beheimatet fühlen. Betroffen sind Menschen aller Altersspannen: Kinder, Jugendliche und Erwachsene, bisweilen auch ältere Menschen. Diese Erfahrung ist häufig auch Ursache für tiefe Verunsicherung und auch für Mangel an Achtung von gesellschaftlicher Seite; aber oft auch für vielgestaltiges, inneres Leid, das nach Linderung und Antworten verlangt. Die Kirche versteht sich grundsätzlich an der Seite aller Menschen stehend, besonders auch an der Seite derer, die mit welchen Lebensumständen auch immer zu kämpfen haben.
Der Glaube der Kirche gewinnt sein Menschenbild nicht nur aus der horizontalen Weggemeinschaft mit den Menschen, sondern grundlegender noch aus der Offenbarung. In ihrer Mitte verehrt sie Christus, der „wahrer Mensch und wahrer Gott“ ist (vgl. das Konzil von Chalkedon). Zudem wurde er »geboren von einer Frau“ (Gal 4,4), die wir katholische Christen und die Kirchen der Orthodoxie als den Anfang der neuen, der heilen Schöpfung verehren. Von diesen beiden Ursprungsgestalten unserer Kirche gewinnen wir die Frage, was Menschsein in der Tiefe ausmacht und woraufhin wir als Menschen insgesamt zielen.
Christus, der „neue Adam“ (vgl. 1 Kor 15,45) ist „Fleisch geworden“ (Joh 1,14) und hat dadurch besonders auch die menschliche, leibliche Natur geheiligt! Dies gilt es festzuhalten, vor allem, da gerade in vielen anderen Auffassungen von Menschsein die leiblich – materielle Natur als Quelle des Unheils und der Desintegration des Menschen verstanden wird.
Denn tatsächlich ist die Erfahrung von Desintegration von Menschsein auch eine Erfahrung eines jeden von uns – freilich nicht zuerst bezogen auf die bloße Leiblichkeit, sondern vielmehr auf die Tatsache, dass der Mensch ein komplexes Selbstverhältnis hat und zugleich ist. Aus der Sicht des Glaubens erfährt nämlich jeder Mensch jeden Tag, dass er in sich selbst nicht ganz heil, nicht ganz authentisch, nicht völlig mit sich im Reinen ist. Im Gegenteil: Allzu oft erfahren wir ein Auseinander und Gegeneinander in uns selbst: Wünsche, Emotionen und Überzeugungen, Triebe und Antriebe, Erinnern und Vorausschau, Denken, Verstehen, Wollen und das Gesamtverhältnis zu uns selbst und zu unserer eigenen Leiblichkeit in Raum und Zeit, im Hier und Jetzt sind im Grunde nur in seltenen Momenten unseres Lebens „geeint“ oder „ganz“ – zueinander integriert.
Wann wären wir wirklich authentisch? Wann sind wir ganz im Hier und Jetzt wirklich da? Wer wüsste schon in der Tiefe, was er wirklich will oder was er wollen könnte und sollte? Oder wozu er überhaupt auf dieser Welt ist? Paulus konstatiert, dass wir nicht einmal wissen, worum wir in angemessener Weise beten sollen (vgl. Röm 8,26). Zudem stellt er fest, dass in ihm eine Wirklichkeit gegenwärtig ist, die er „Sünde“ nennt – und die dazu führt, dass er gerade das tut, was er nicht will (vgl. Röm 7,15).
Das Menschenherz ist in dieser Sicht des Paulus „verfinstert“ (Röm 1,21) – und deshalb ist der Mensch, jeder Mensch, zugleich „ausgeliefert“ an, wie Paulus schreibt, „Unreinheit“ durch „Begierden“, die dazu führen, dass der eigene Leib „entehrt“ wird (vgl. Röm 1,24). Auch Jesus selbst bezeichnet das Herz des Menschen, das in der Schrift die personale, alles integrierende Mitte des Menschen meint, als „böse“ (vgl. Mt 12,45f; Mt 15,18f)
Neues Verhältnis zur Leiblichkeit
Für katholische Christen ist diese Erfahrung der Desintegration freilich nie die ganze Wirklichkeit: Wir sind als Menschen in dieser Sicht „verwundet“, aber nicht völlig korrumpiert. Unser Ursprung aus der Liebe des Schöpfers als seine „Ebenbilder“ bleibt auch in der Erfahrung der Desintegration tief erinnert und im Gewissen, dem „Heiligtum im Menschen“ (GS 16), zugänglich – auch wenn wir aus eigener Kraft nicht in einen Zustand „erlösten Daseins“ zurückfinden können. „Erlösung“ kommt nicht aus dem eigenen, mit mir identischem Inneren, sondern aus einer von mir selbst unterschiedenen Quelle, die mir zwar – spätestens mit der Taufe – innerlicher ist als ich selbst, aber dennoch nicht identisch mit mir: Sie kommt aus dem erlösenden Handeln Christi, aus der Gegenwart seines Geistes in uns.
Das bedeutet grundsätzlich: Im gesamten Spektrum des Verhältnisses zu uns selbst erleben sich Christen auch als „unerlöst“, als nicht „heil“, sondern eben als erlösungsbedürftig. Und diese Grunderfahrung schließt die Dimension unserer Leiblichkeit und mit ihr Emotionen und Triebe mit ein: Paulus spricht oft genug vom „Fleisch“ – und meint damit die gesamte leib-seelische Konstitution in sich selbst, sofern sie nicht von Gottes Geist durchstimmt ist, sondern den Menschen dazu bringt, sich gegen Gott aufzulehnen aus Selbstbehauptung und der daraus kommenden, konsequenten Verfolgung der nur eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Zugleich erzählt Paulus aber davon, dass ein existenziell erfahrener und gelebter Glaube an Christus zur Einwohnung des Geistes Gottes in ihm (und allen Christen) führt ~ und sein Menschsein tatsächlich fundamental verändert:
Er gewinnt darin auch ein neues Verhältnis zur Leiblichkeit. Vormals gottvergessenes „Fleisch“, das mit einem „unverständigen und verfinstertem Herzen“ (Röm 1,21) einhergeht, wird nun „neue Schöpfung“ (2 Kor 5,17) und der ganze Mensch samt seinem Leib zu einem „Tempel des Heiligen Geistes“ (1 Kor 6,19).
Ringen um Kohärenz
Beides ist in aller Regel kein plötzliches oder nur punktuelles Geschehen, sondern vielmehr ein Prozess. Die menschliche Grundversuchung, sein zu wollen wie Gott (vgl. Gen 3,5), und darin auch die eigene Desintegration mit eigenen Mitteln bewältigen zu wollen, scheitert grundsätzlich und immer neu an der unüberwindlichen Erfahrung, bleibend doch nur verwundetes und verwundbares Geschöpf zu sein – und eben nicht Gott. Christus wählt als Gott den genau umgekehrten Weg und geht den Weg der Demut in dieses verwundbare Menschsein hinein – und legt dabei sein ganzes Handeln zugleich vertrauensvoll in die Hände des Vaters, der ihn letztlich erhöht. Dies zeichnet den Weg einer wachsenden Integration für den Menschen vor: die eigene Verwundung und Verwundbarkeit annehmen – und sich in der Gemeinschaft mit Christus immer neu dem Vater zu übergeben.
Das lässt sich in weniger biblisch-theologischen Kategorien so ausdrücken: Jeder Mensch ist zeitlebens herausgefordert, in seine eigene Ganzheit als Integrität immer neu zu finden und sie zu wahren. Kommen wir mit uns selbst einigermaßen in Übereinstimmung: Sind Denken, Wollen, Fühlen, natürliche Triebe, Sprechen, Handeln und in alledem auch das Verhältnis zu mir selbst und zum eigenen Leib kohärent? Kann ich authentisch ganz da sein? Oder neige ich dazu, mich schlicht gehen zu lassen – in vielfacher Hinsicht?
Das heißt, im Ringen um Kohärenz bin ich immer zugleich auch von Desintegration bedroht gerade im Blick auf die eigene Leiblichkeit. Allein die alltägliche Erfahrung, dass wir die Phänomene von Krankheit, von Älterwerden, von Figurveränderungen, von Verlust von Fähigkeiten, von Hunger, Durst, Schlafbedürfnis, Sexualtrieb, von potenziellen und aktuellen Süchten, von körperlicher Bequemlichkeit, von Schmerz und Tod und anderem mehr, nie unter eine letzte Kontrolle bringen, all das führt zu der Herausforderung, sich immer neu auch ein Ja zur eigenen Leiblichkeit anzueignen. Und damit zugleich immer neu zur Aufgabe der „Annahme seiner selbst“ (Romano Guardini) im Ganzen. Wir sind und bleiben geschichtliche, werdende Wesen im anhaltenden Drama gelingender oder misslingender Selbstwerdung. Die Annahme seiner selbst in vielen Bereichen und Phasen menschlicher Existenz bleibt damit in diesem Leben eine nie endende Grundaufgabe – ebenso wie aus christlicher Sicht die Annahme der Andersheit jedes anderen Menschen Aufgabe bleibt.
Aber die Erfahrung der Christen aller Jahrhunderte bezeugt ursprünglich und tief, dass das gläubige Gehen mit Christus im Heiligen Geist zu größerer Ganzheit führt, zu mehr psychophysischer Integration und damit, christlich gesprochen, zu mehr Heil. Diejenigen, die sich am offensten und mutigsten diesem Weg mit Christus gestellt haben, verehren wir als die Heiligen, als diejenigen, an deren Leben christliche „Ganzheit“ am besten verstanden werden kann – je größere Ähnlichkeit mit Christus, der „Wort Gottes in Person“ ist, und mit Maria, der geschöpflichen Antwortgestalt schlechthin.
Freilich ist die christliche Erfahrung auch davon geprägt, dass in diesem Leben keine vollständige Integration möglich ist; dass dieses Leben Unterwegssein zum Heil ist. Wir glauben, dass sich dieses Heil erst im Leben jenseits des biologischen Todes vollständig enthüllen, ereignen wird. Der biologische Tod bleibt als von vorne auf uns Zukommender und als Phänomen, das sich als Vergänglichkeit und zunehmende Hinfälligkeit tagtäglich in unser Leben einzeichnet, die Quelle der Desintegration schlechthin. Denn aus ihr folgt eine bleibende, meist angstgetriebene Versuchung, sich egozentrisch und notfalls mit allen Mitteln in diesem Leben festmachen zu müssen. Aber auch zu dieser Wirklichkeit kann der Glaube, der zu Christus, dem Sieger über den Tod gefunden hat, sagen: „Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist Stachel?“ (1 Kor 15,55)
Von dieser Grundlage aus der Offenbarung her schauen wir nun auch auf die Erfahrung von Menschen mit Geschlechtsdysphorie. Und ich beziehe mich ausschließlich auf diejenigen, die sich als transident wahrnehmen, nicht auf intergeschlechtliche Menschen.
Der Unterschied ist aus meiner Sicht bedeutsam: Bei intergeschlechtlichen Menschen ist die biologische Grundlage (sex) uneindeutig, sie haben aufgrund von Varianten in der embryonalen Entwicklung in sich häufig Anteile biologischer Männlichkeit und Weiblichkeit, Daher braucht es für intergeschlechtliche Menschen eigene Kriterien der Selbstbestimmung, die es aber auch schon grundlegend gibt.
Bei Transsexuellen oder begrifflich besser bei Transpersonen ist die Sache unterschiedlich: Bei ihnen gibt es normalerweise eine eindeutige Zugehörigkeit zum biologisch männlichen oder weiblichen Geschlecht. Aber die innere Identitätserfahrung ist die der gefühlten und gewünschten Zugehörigkeit entweder zum anderen Geschlecht oder sie ist verbunden mit dem Wunsch, keinem der beiden Geschlechter eindeutig zugehören zu wollen. Diese Menschen bezeichnen sich als „nicht-binär“ beziehungsweise „trans nicht-binär«.
Bleibende Erfahrungen von Inkongruenz
Wir sehen die unterschiedlichen Phänomene von Transgeschlechtlichkeit in den letzten Jahren häufiger auftreten, insbesondere unter Kindern und Jugendlichen – und damit schieben sie sich zugleich massiver ins öffentliche Bewusstsein. Das Verständnis zu den Ursachen der empfundenen Dysphorie ist, soweit ich informiert bin, noch sehr bruchstückhaft. Auch gibt es offenbar noch zu wenig Forschung und Daten über Langzeitauswirkungen etwa bei Jugendlichen, die sich entscheiden, sich operativ oder hormonell dem anderen Geschlecht angleichen zu lassen. Einigkeit besteht allerdings auch in Biologie und Medizin darüber, dass es nicht möglich ist, aus einem biologisch eindeutigen Mann (der etwa von Samenzellen ist und Träger von XY Chromosomen) eine biologisch eindeutige Frau zu „machen“ (analog: Trägerin von XX-Chromosomen und aktuelle oder potenzielle Produzentin von Eizellen) oder umgekehrt.
Das heißt letztlich: Die Frage nach der gewünschten neuen, auch äußerlich sichtbaren und zugleich auch biologisch und leiblich-emotional erfahrbaren „Identität“ wird sich in der Tiefe nicht völlig realisieren lassen – und bleibt womöglich für einige auch nach operativen oder hormonellen Angleichungsmaßnahmen noch mit bleibenden Erfahrungen von Inkongruenz und eventuell leidvollen körperlichen und seelischen Folgephänomenen verbunden. Freilich gilt das eben Gesagte nur für Menschen, die sich einem anderen Geschlecht zugehörig fühlen und sich nach phänotypisch-biologischer Angleichung sehnen. Es gilt nicht für Menschen, die sich weder als männlich noch als weiblich identifizieren – und sich daher auch keinen phänotypischen oder biologischen Angleichungen unterziehen wollen.
Ich bin als Christ nun der Überzeugung, dass das Hineinfinden eines Menschen in ein erneuertes Gottvertrauen und in die vertrauensvolle Annahme der Zusage, von Gott unbedingt geliebt zu sein, immer auch eine Veränderung im Selbstverhältnis bewirkt, und zum Beispiel mit dem Erleben einer „neuen Identität“ oder – wie es im Evangelium heißt -, einer „neuen Geburt“ (vgl. Joh 3,7f.) einhergehen kann. Der Glaube spricht von der tiefen Erfahrung der „Gotteskindschaft“ und dem Wachsen in der eigenen Vertrauens- und Liebesfähigkeit – im Verhältnis zu anderen und zu sich selbst.
Eine solche innere Transformation ist nach gläubiger Überzeugung für jeden Menschen wichtig, weil es dabei um das Finden in die innere Nähe zur rettenden Wirklichkeit Gottes geht.
Diese wird vor allem im johanneischen Sinn als lautere, schöpferische Liebe beschrieben, in die der Mensch hin eingerufen ist, um in ihr zu „bleiben“ (Bleibt in meiner Liebe“, Joh 15,9) und sie in „Freundschaft“ (vgl. Joh 15,15) mit Christus zu leben. Zu dieser Liebe, die zugleich der Grund für die Erschaffung und Erlösung der Welt ist, ist der Mensch berufen.
Thomas von Aquin spricht von ihr als einer „Kraft“, die den Menschen „eint“ und ihn „zusammenwachsen“ lässt, die ihn also konkret macht – oder eben, in der Sprache des vorliegenden Versuches: die ihn zu größerer Ganzheit integriert. Wer also nach Thomas in die innere Berührung und ins Bleiben dieser Liebe findet, wird neu und mehr ganz; oder mit Paulus: Er wird „neue Schöpfung“ (2 Kor 5,17). Damit ist auch gesagt, dass im christlichen Selbstverständnis „Liebe“ nie einfach schon „Liebe“ wäre – und immer schon alles, was der Mensch für Liebe hält oder gerne halten würde, miteinschließen würde. Ja natürlich, „Liebe gewinnt“! Aber jene Liebe, die über Sünde und Tod schon gewonnen hat, ist die gekreuzigte Liebe – und die mutet uns der Herr zu, lädt zu ihr ein und will sie und darin sich selbst ganz verschenken. Sie ist es, die von Grund auf „neu‘ machen kann. Das heißt, der Mensch muss zunächst nichts „leisten vor Gott“, vielmehr ist er zunächst angerufen, die Liebe des Gekreuzigten in seinem Leben schlicht zuzulassen, sie als Gabe anzunehmen – und dann immer neu zu lernen, aus diesem Geschenk heraus antwortend zu leben.
Ich meine, wir wären daher aufgerufen, die großen anthropologischen Fragen, die uns die Debatte um queere Menschen in der Kirche stellt, vor diesem gläubigen und biblischen Hintergrund zu sehen. Gleichzeitig beobachte ich aber, dass dieser Hintergrund so gut wie nie aufgerufen wird, wenn von der Seite der Kirche Stellungnahmen zu den Unterschiedlichen Fragen erfolgen, die die genannten Phänomene stellen.
Vertrauen auf die Gegenwart Gottes
Mir stellt sich daher die Frage: Ist dieses Erleben von innerer Transformation eines Menschen durch den Glauben ein Phänomen, das unter Christen in einer liberalen Gesellschaft wie der gegenwärtigen in unserem Land überhaupt noch in einem größeren Kreis nachvollziehbar wäre? Wird es grundsätzlich geglaubt? Oder bleibt der Glaube daran, wenn überhaupt, weitgehend in einer eher allgemeinen Sphäre, eher als ein bestenfalls interessantes Phänomen biblischen Erlebnishorizontes von damals? Und wenn es in diesem Sinn nur „gedacht“ wäre, wäre es wenig verwunderlich, wenn sich daraus heute im Hier und Jetzt keine Kraft mehr für die geschilderte Transformation entfaltete. Oder an jeden und jede persönlich adressiert: Will ich im Glauben heiler und heiliger werden? Also mehr ganz? Oder glaube ich gar nicht mehr, dass das passieren kann?
Wie sich nun eine solche Transformation durch Vertrauen auf die Gegenwart Jesu – etwa bei Transpersonen – dann auf das Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit auswirkt, steht in der Beurteilung jedes einzelnen Menschen – und kann von außen weder letztgültig beurteilt und schon gar nicht verordnet werden. Niemand – außer Gott – kann die Perspektive der ersten Person eines anderen vollständig einnehmen. Daher bleibt der Umgang mit dieser Erfahrung notwendig ein Weg, in dem die Freiheit des Einzelnen je persönlich angerufen ist.
Nach meiner Überzeugung und persönlichen Erfahrung kann der Weg in einen in der Wurzel der eigenen Existenz gründenden Glauben ein stimmiger Weg sein, in den größeren inneren Frieden mit sich selbst zu finden – und damit auch in den Frieden mit dem eigenen, biologischen Geschlecht. Dieses liegt uns wenigstens in gläubiger Sicht ja auch als ein von Gott gegebenes voraus. Wir finden uns in ihm, wenn auch, wie erläutert, bei allen in gebrochener und nicht immer schon integrierter Weise.
Wenn also die Ursachen für Phänomene von Transidentität weitgehend im Dunkeln liegen und jeder Mensch darin seine eigene, unverwechselbare und individuelle Geschichte hat, dann ist die Frage offen, ob ein erneuertes und vertieftes Verhältnis zum Erlöser, dem je Einzelnen auch in ein mehr erlösendes und erlöstes Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit helfen kann. Oder auch zur geschenkten Kraft, die eigene als inkongruent erfahrene Situation auch als aufgegebene zu tragen – und auf diese Art Zeugnis von eben jener Kraft zu geben. Schrift und Tradition bestätigen jedenfalls solche Perspektiven und fordern den Glaubenden in dieser Hinsicht zur intensiven Selbstprüfung auf.
Andererseits gibt es tatsächlich auch nicht wenige Erfahrungsberichte darüber, dass die konkrete Leiderfahrung als Folge der Dysphorie massiv gemildert werden kann, etwa durch die derzeit diskutierte Möglichkeit einer vereinfachten personenstandsrechtlichen Regelung oder auch durch operative oder hormonelle Angleichung an ein anderes Geschlecht. Diese Erfahrungen können wir auch als Kirche mit unserem Glaubenshintergrund nicht ignorieren, sondern sind aufgefordert, sie sensibel wahrzunehmen und zu begleiten. Auch die Achtung vor dem Wunsch nach Selbstbestimmung in diesem so fundamentalen Bereich des Menschseins gehört notwendig zu einem christlichen Verständnis von Wegbegleitung.
Von einer hier in Ansätzen nachgezeichneten biblischen, „Anthropologie der Transformation“ würde aber die Empfehlung ausgehen, dass die Möglichkeit sowohl für den veränderten Geschlechtseintrag wie für geschlechtsangleichende Maßnahmen grundsätzlich eher so spät wie möglich und so defensiv wie möglich gegeben sein sollte; zumal gerade bei jungen Menschen die Zahl derjenigen, die sich später mit ihrem biologischen Geschlecht doch wieder aussöhnen, offenbar signifikant hoch ist.
Mir ist aber auch bewusst, dass es Menschen gibt, die dieses „eher spät und eher defensiv“ als eine für Einzelne kaum erträgliche Verlängerung eines Leidensweges erleben und deuten.
Deshalb gilt auch: Wir selbst können als gläubige Menschen der Kirche den Glauben an Christus, der lebensverändernd sein und zu mehr erlebter Ganzheit und Selbstannahme und zu tieferer Freude führen kann, immer nur einladend vorschlagen und selbst bezeugen – aber nie dazu nötigen. Daher sehe ich nicht nur persönlich, sondern auch als Amtsperson der Kirche und darin in der Mitverantwortung für die Lehre der Kirche, staatlichen Regelungsbedarf in diesen für uns so herausfordernden Fragen.
__________________________________________________
Mehr über das christliche Menschenbild lest ihr hier.