Über das christliche Menschenbild

Was ist das christliche Menschenbild? Ein kurzer Versuch von Bischof Stefan Oster über das, was wir gemeinhin als „das christliche Menschenbild“ bezeichnen.

Sehr schnell sprechen wir im religiösen, politischen und gesellschaftlichen Kontext über das „christliche Menschenbild“. Wir meinen oder hoffen dann, uns gemeinsam auf eine Basis zu beziehen, die viele Diskursteilnehmer selbstverständlich teilen. Ich bin freilich eher der Meinung, dass dieser gemeinsame Bezugspunkt in der Regel nur ein scheinbarer ist. Ein Bezugspunkt, der als schnelles Schlagwort verwendet, eher hilft, nur einen Schein von Einmütigkeit zu wahren.

Tiefer betrachtet würden wir wohl feststellen, dass wir – sogar innerhalb der Kirchen und Konfessionen – wesentliche Aspekte des christlichen Menschenbildes gar nicht mehr teilen. Ich habe in diesem Text schon vor einigen Jahren versucht, ein paar dieser aus meiner Sicht unverzichtbaren Aspekte herauszuarbeiten. Ein wenig Geduld beim Lesen ist allerdings nötig 🙂

Ein Lackmustest: Freiheit verstehen

Die heutige Gesellschaft ist in der öffentlichen Wahrnehmung durch Phänomene bestimmt wie Globalisierung und Ökonomisierung, Pluralisierung und Individualisierung. Aber auch durch rasanten Wandel in den Informationstechnologien, in den Fortschritten vor allem der biologischen Wissenschaften vom Menschen. Im Gefühl von Bedrohung durch schwer beherrschbare Risiken der Natur, der Technik und bestimmter Krankheiten.

Gleichzeitig eröffnen die modernen Gesellschaften immer noch oder gerade wegen der genannten Entwicklungen scheinbar unerschöpfliche Möglichkeiten der Wahl für die persönliche Lebensentfaltung und Lebensform, beim Güterkonsum oder bei der Suche nach Bildungs- und Berufschancen.

Das christliche Menschenbild und der moderne Mensch

„Freiheit“ und das, was mit dem Begriff verbunden wird, ist daher immer noch ein Hauptkennzeichen für die Beschreibung des modernen Menschen, ohne dass dabei die vielfältigen Formen von Abhängigkeiten, von Versklavung oder von vielfachen Formen des Scheiterns in den einzelnen Lebensentwürfen übersehen werden dürfen.

Dennoch scheint das Bedürfnis, Herr über das eigene Leben zu sein, und diesem Leben vielfältige Wahlmöglichkeiten zu eröffnen, eine bestimmende Eigenschaft des modernen Menschen zu sein. Es ist daher hilfreich, dem Versuch einer Skizze eines christlichen Menschenbildes vorab voranzustellen, was mit dem vieldimensionalen Begriff der Freiheit gemeint ist. Folgende vier Aspekte lassen sich plausibel voneinander unterscheiden.

Was ist mit Freiheit gemeint?

  1. Die transzendentale Freiheit (im kantischen Sinne). Der Mensch kann selbst ein Anfang sein innerhalb eines Naturzusammenhangs von Ursache und Wirkung. Er kann selbst sogar so etwas wie eine absolute Ursache sein, insofern er eine neue, unvorhersehbare Folge eines Ursache-Wirkungszusammenhangs in Gang setzen kann. Das heißt: der kausale Naturzusammenhang ist nicht in sich geschlossen, sondern der Mensch kann etwas grundsätzlich unvorhersehbar Neues beginnen.
  2. Die Willensfreiheit erweist sich als Freiheit zu etwas – und bezieht sich auf die Möglichkeit, wählen zu können, eine bestimmte Handlung auszuführen oder nicht (A oder nicht A = Vollzugsfreiheit). Bzw. innerhalb einer bestimmten Handlung noch einmal Variationsmöglichkeiten zu haben (A oder B = Wahlfreiheit). Beispiel: Fahre ich Fahrrad oder bleibe ich zuhause? Und wenn ich Fahrrad fahre, fahre ich dann nach A oder B?
  3. Die Handlungsfreiheit erweist sich als Freiheit von etwas und lässt sich noch einmal untergliedern. In die Freiheit des Dürfens (rechtlich, moralisch: „Das soll man nicht tun“) und die Freiheit des Könnens (psychisch, physisch; z.B. „Ich wäre gerne Fußballspieler, bin aber beinamputiert“).
  4. Das christliche Menschenbild bleibt aber bei diesen verschiedenen Dimensionen von Freiheit nicht stehen, sondern zielt auf eine existenziellere, eine tiefere Erfahrung von Freiheit, die mit „Freiheit als Ausdruck authentischen Selbstseins“ oder „Freiheit als personaler Selbstvollzug“ beschrieben werden kann. Sie wird erfahrbar als Integration und Authentizität einer Person. Als Übereinstimmung eines Menschen mit sich selbst, als Einheit von Wollen und Sollen, von Vernunft und Gefühl (biblisch: Herz).Christlich gesprochen bedeutet das: Eine solche Form der Freiheit wird vor allem erfahrbar im liebenden Handeln, in dem zum Beispiel Wollen und Sollen miteinander versöhnt sind. Eine solche Erfahrung integrierten Selbstseins im liebenden Handeln ermöglicht zugleich den Durchblick auf die Dimension der Versöhnung des eigenen Willens mit dem Willen Gottes als letztem Kriterium existenzieller, personaler Freiheit.Solch eine Tiefenerfahrung von Freiheit erstrebt jeder Mensch. Sie schließt die anderen genannten Dimensionen von Freiheit nicht aus, sondern ein, bringt sie erst im vollen Sinn zur Geltung und erweist damit ihren eigentlichen Sinn. In einer solchen Erfahrung sind Freiheit und Gehorsam kein Widerspruch, sondern Einheit. Ein Bild dafür ist zum Beispiel der anmutige Tanz. Die Tänzer bewegen sich offenbar in großer Freiheit über das Parkett, sind aber zugleich dem Takt, der Melodie, dem Tanzpartner zutiefst gehorsam – aus Hingabe.Christlich gesprochen bedeutet dies: Erst wenn die verschiedenen Aspekte des Freiheitsstrebens des heutigen Menschen in die vierte, die Tiefendimension des Freiheitsbegriffes integriert sind, gewinnen wir zugleich ein Hauptkriterium für die Ausübung der verschiedenen Dimensionen unseres eigenen Freiheitsvollzugs. Dienen sie aufs Ganze der Selbstwerdung der eigenen Person und derer, mit denen wir leben – oder entfalten sie eher ein destruktives Potenzial der Beliebigkeit?

Geschöpflichkeit: Leben als Geschenk

Der christliche Glaube bekennt Gott den Vater als den Schöpfer von allem, was existiert. Personal verstanden ist Gott darin aber nicht einfach ein Produzent oder Hersteller der Schöpfung, sondern ein liebender Geber alles Guten (vgl. Jak 1,17). Gott schenkt den Geschöpfen das Sein in unterschiedlicher Weise. Als bloße Existenz bei leblosen Dingen, als Leben bei allem Lebendigen und als geistiges Leben für alle geistbegabten Wesen. Alles, was in endlicher Weise existiert, bildet den unendlichen Schöpfer ab, weil dieser das Leben und lebendige Wirklichkeit schlechthin ist.

Der Mensch aber bildet den Schöpfer in besonderer Weise ab, weil er selbst geistbegabt ist und zu seinem Schöpfer in eine personale Beziehung treten kann. Er kann erkennen, dass er sein Leben und daher sich selbst vom Schöpfer empfangen hat. Und er kann in Freiheit sein Leben so gestalten, dass darin zum Ausdruck kommt, dass er es einem liebenden Schöpfer verdankt.

Freundschaft mit Gott

Verdanktes Leben heißt in christlicher Tradition: ein Leben in besonderer Liebe zu Gott und den Mitgeschöpfen zu führen, unter denen den Mitmenschen ein besonderer Rang zukommt. Menschliches Leben erfüllt sich aber zuletzt in der Freundschaft mit Gott, eine Beziehung, die den Menschen zugleich ins rechte Verhältnis zu seinen Mitgeschöpfen und Mitmenschen zu bringen vermag.

Die Erfahrung, dass Gott derjenige ist, der alles Sein schenkt, ist aus christlicher Sicht mit naturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen der Welt vereinbar, etwa mit der Auffassung vom evolutiven Entstehen der Welt. Gleichwohl bleibt die Vermittlung des Glaubens an den Schöpfergott mit den Erklärungen der Wissenschaften über die Entstehung der Welt eine ständige Herausforderung.

Der Mensch als Person: Geist, Gewissen und Würde

Als gottfähiges Wesen ist der Mensch zugleich fähig, das in sich Wahre, Gute und Schöne zu erkennen und ihm gemäß sein Leben zu gestalten. Er ist geistbegabt, das heißt, er kann sich anders als etwa ein Tier allem, was es gibt, um der Sache (oder der Person) selbst willen zuwenden und fragen: Was ist das? bzw. Wer bist du?

Und aus der Erkenntnis, die aus einem solchen Fragen folgt, kann dann auch ein Handeln folgen, das der Sache oder dem anderen Menschen ganz angemessen ist, weil es um dessentwillen geschieht. Eine solche Zuwendung kann unabhängig geschehen von bloß naturalen Triebbedürfnissen oder Interessen des Menschen etwa nach Anerkennung, Besitz, Genuss oder Fortpflanzung.

Vom Anderen her denken und handeln

Sie kann vielmehr schlicht aus Interesse an dem Gegenstand oder der Person selbst motiviert sein. Diese Fähigkeit des Menschen, etwas oder jemanden um seiner selbst willen zu erkennen und zu bejahen, ist damit die Grundlage für den Zugang des Menschen zu Wahrheit und Werthaftigkeit (Kostbarkeit) der Dinge, ja der ganzen Schöpfung.

Sie befähigt ihn deshalb auch, den Standpunkt bloßen Eigeninteresses zu verlassen und vom Anderen her und für den Anderen zu denken und zu handeln. Sie befähigt ihn also zur Erkenntnis universal gültiger Wahrheiten und zur Übernahme von Verantwortung aus dem Anspruch, der ihm vom Anderen her entgegenkommt.

Das christliche Menschenbild und das Gewissen

Diese Fähigkeit, sich auf den Anderen hin zu überschreiten, erweckt im Menschen zugleich sein Gewissen. Also seine Fähigkeit, tatsächlich auch gemäß dem Guten und Wahren zu urteilen und zu handeln. Freilich sind der menschliche Geist und mit ihm das Gewissen zunächst vor allem als grundsätzliche Anlage im Menschen vorhanden.

Sie werden erst im Laufe des menschlichen Lebens entfaltet und weiter ausgebildet. Das heißt, sie können sich in ihrer Bezogenheit auf das Wahre und Gute und in ihrer Fähigkeit, dies jeweils auch konkret zu erkennen und zu beurteilen, positiv oder negativ entwickeln. Ein menschliches Gewissen kann immer feinfühliger und sensibler, es kann aber auch verdunkelt werden.

Zur Würde des Menschen

Unabhängig vom jeweiligen Grad der Entwicklung in der Fähigkeit zur Erkenntnis und zum Gewissensurteil beim einzelnen Menschen gilt aber dennoch, dass ausnahmslos jeder Mensch, kraft seiner Zugehörigkeit zur Gattung Mensch als Wesen mit Geist und Gewissen und daher als Wesen mit unverlierbarer Würde anzuerkennen und zu behandeln ist.

Jeder Mensch ist kraft seines Menschseins unverlierbar und immer schon eine Person, ein unvertauschbares, unersetzbares, einzigartiges Wesen der Freiheit, das dazu berufen ist, sein Personsein im Erkennen der Wahrheit und im Tun des Guten zu entfalten und zu verwirklichen.

Der Mensch ist von Anfang an „Jemand“

Dabei hängt die Pflicht zur Zuerkennung der Personwürde durch Andere nicht an einzelnen Eigenschaften einzelner Menschen. Etwa am Grad der momentanen Erkenntnisfähigkeit, sondern an der grundsätzlichen Zugehörigkeit eines Lebewesens zur Gattung Mensch und zwar vom ersten Moment der Empfängnis an bis zum Eintritt des Todes.

Denn aus „etwas“ (z.B. einem „embryonalen Zellklumpen“) wird nicht „jemand“ (eine Person). Vielmehr ist menschliches Leben von Anfang an jemand, also personales Leben. Und umgekehrt wird aus jemandem nicht irgendwann etwas, nur weil jemand bestimmte Eigenschaften, z.B. das Bewusstsein, verliert.

Das christliche Menschenbild: Einheit von Leib und Seele

Der Mensch ist aber nicht nur geistiges Wesen, er ist immer schon und zuerst Einheit von Geist und Leib. Der Christ ist zusätzlich der gläubigen Überzeugung, dass Gott in seiner Menschwerdung „Fleisch geworden“ (Joh 1,14) ist und damit die leiblich-materielle Dimension des Menschen und der Welt zutiefst bejaht und angenommen hat.

Aus dieser ganzheitlichen Sicht des Menschen ist es aber unmöglich, als Christ grundsätzlich leibfeindlich zu sein. Zugleich ist aber festzuhalten, dass der Leib dem personalen Leben des Geistes und der Seele ein- und untergeordnet ist, weshalb auch ein übertriebener Kult der Leiblichkeit für den Christen unangemessen ist.

Mann und Frau

Als Einheit von Leib und Seele bzw. Leib und Geist ist der Mensch zugleich in der Bipolarität von Mann und Frau geschaffen. Beide Geschlechter sind aufeinander hingeordnet, beide ergänzen einander und beide sind in ihrer Würde ohne Unterschied gleichrangig vor Gott.

Die gegenseitige Bezogenheit der Geschlechter aufeinander heißt freilich nicht, dass ein Mensch ohne Ergänzung durch das andere Geschlecht nicht dennoch im vollen Sinn Mensch wäre. Die Hinordnung auf das jeweils andere Geschlecht erfährt der Mensch vor allem in seiner Suche nach einer dauerhaften Lebensform und in seinem Drang nach Lebensweitergabe.

Das Drama der Sünde: Ich-Bezogenheit gegen Gott-Bezogenheit

Die jüdisch-christliche Tradition hält nun aber daran fest, dass der Mensch, wie wir ihn heute kennen und erleben, nicht mehr derjenige ist, als der er von Gott ursprünglich gemeint war (vgl. Gen 6,6). Er lebt nicht mehr in einer heilen Ebenbildlichkeit zu Gott und auch nicht in einer heilen, ursprünglichen Bezogenheit auf Gott. – Eine Beziehung, die aber in der Tiefe der eigentliche Lebenssinn des Menschen ist und die ihn seinerseits zur selbstlosen Hingabe an Gott und die Geschöpfe befähigen würde.

Der Mensch erfährt sich heute statt in dieser Urbeziehung vielmehr zunächst und vor allem als Ich-bezogen, eine Egozentrik, durch die er gefährdet ist, immer wieder zur Lüge und zum Bösen verführt zu werden.

Der Sündenfall

Die jüdisch-christliche Glaubenstradition geht davon aus, dass der Mensch im Ursprung die Liebes- und Gehorsamsbeziehung zu seinem Schöpfer aufgekündigt hat, um sich auf sich selbst zu stellen. Dieses geheimnisvolle Verlassen der Ursprungsbeziehung, die in der biblischen Erzählung vom Sündenfall in tiefen Bildern zum Ausdruck gebracht wird, wird von der Tradition als Ursprungssünde bezeichnet, deren Folgen sich in schicksalhafter Art auf das ganze Menschengeschlecht ausgebreitet haben. Eine Erfahrung, die im Begriff „Erbsünde“ zum Ausdruck kommt.

Mit diesem Begriff, der zunächst keine aktive Sünde, sondern das Fehlen eines heilen Ausgangszustandes bezeichnet, verdeutlicht die Glaubenstradition, dass es in jedem einzelnen Menschen eine geheimnisvolle und schicksalhafte Verbundenheit mit dem ganzen menschlichen Geschlecht in seiner Neigung zur Abkehr von Gott und zu einer verkehrten, begierlichen Hinneigung zur Welt und in seiner Verführbarkeit zum Bösen gibt.

Desintegration

Dieser Zustand hat den Menschen als Menschen nicht zerstört, aber in gewisser Hinsicht desintegriert. Das heißt, dass der Mensch fortan beständig darum ringen muss, in seinem Lebensvollzug beispielsweise in eine gesunde Form der Selbstannahme und Selbstbejahung zu finden. Oder in ein gesundes Verhältnis zu seiner eigenen Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit.

Er ist auch aufgefordert, sich beständig um die personale Integration seiner naturhaften Triebe (etwa nach Selbsterhalt, Nahrung, Sexualität etc.) zu bemühen und selbstverständlich immer neu um eine gute, liebe- und verantwortungsvolle Beziehung zu jedem Menschen, insbesondere zu seinem Nächsten. All das ist dem Menschen nicht mehr unmittelbar gegeben, es ist ihm keine „paradiesische“ Selbstverständlichkeit mehr, sondern bleibende mühevolle Aufgabe geworden, an der er aber immer wieder auch sein Scheitern erfährt. Umgekehrt wird ein Mensch, der sich dieser Aufgabe stellt und darin vorankommt auch Sinn und Freude erfahren.

Das Problem des Todes: Leben sichern oder Leben hingeben

Die christliche Glaubenstradition kennt auch einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen der Erfahrung der Gottferne einerseits und der Deutung des Todes andererseits. Durch die in seine gebrochene Natur eingeschriebene Neigung zur Abwendung von Gott bei gleichzeitiger Hinneigung zum Festhalten an sich selbst, tendiert der Mensch zugleich dazu, den ihn bedrohenden Tod als katastrophales Ende und als Bedrohung mit der Vernichtung und dem Nichtsein zu verstehen.

Die ausdrücklich oder hintergründig herrschende Angst, sich im Tod selbst verlieren zu können, befördert deshalb den Menschen noch einmal in seiner Neigung zur Ich-Bezogenheit und Ich-Sicherung und behindert ihn zugleich in seiner Fähigkeit zur liebenden Hingabe an Gott und den Menschen.

„Wer nicht liebt, bleibt im Tod“

Der christliche Glaube sieht aber genau in dieser Spannung, zwischen Lebenssicherung einerseits und liebender Lebenshingabe andererseits das entscheidende Problem für den Menschen. Jesus sagt: „Wer das Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen.“ (Mt 10, 39)

Und im 1. Johannesbrief lesen wir: „Wer nicht liebt, bleibt im Tod“ (1 Joh 3,14). Hier wird also ein bloß diesseitig verstandenes Leben als eines verstanden, das in gewisser Hinsicht schon tot ist. Während ein Leben, das sich in der Liebe auf Gott und den Nächsten hin selbst überschreiten kann, als das eigentliche Leben gilt.

Das christliche Menschenbild: Sehnsucht nach Sinn und nach Liebe

Trotz seiner Gebrochenheit bleibt dem Menschen die Sehnsucht nach Sinn und nach Glück, nach dem Wahren, Guten und Schönen, nach Liebe und Geliebt-sein tief ins Herz geschrieben. Die christliche Anthropologie lehrt nun, dass die menschliche Sehnsucht nach Sinn und Liebe in all ihren möglichen Erfahrungen zunächst immer schon in der Hinwendung zum Geschaffenen anhebt.

Sie schätzt daher alles hoch, was in dieser Welt wahr, gut und schön ist, sie behandelt mit Hochachtung alle authentischen Formen kulturellen Ausdrucks. Sie bejaht jede Form von aufrichtiger innerweltlicher Zuneigung, echter Freundschaft oder großherzigem Handeln – auch außerhalb eines ausdrücklich christlichen Kontextes.

Nur das Unendliche kann diese Sehnsucht stillen

Aber sie weiß auch, dass die Sehnsucht des menschlichen Herzens nach Sinn und Liebe gegen unendlich geht und zuletzt nur vom Unendlichen gestillt werden kann. Daher versucht die Kirche in ihrer Glaubensvermittlung den Menschen dahin zu begleiten und zu erziehen, dass er jede innerweltliche Erfahrung von wahr, gut und schön verstehen lernt als Gabe aus den Händen eines unendlichen Gebers. Findet der Mensch in ein solches Verstehen der Wirklichkeit hinein, dann weitet sich ihm von selbst der Blick und das Erkennen dieser Wirklichkeit.

Wirklichkeit wird jetzt als Gabe transparent auf den Gebenden und verweist auf ihn als auf den Ursprung von allem Gegebenen zurück. Und sie weist zugleich über sich hinaus auf die mögliche personale Begegnung mit dem liebenden Geber selbst. In dieser Begegnung, die im Hier und Jetzt schon anhebt, die sich aber erst nach dem Tod vollends erfüllt, führt alle menschliche Sehnsucht nach Sinn, Liebe und Glück in ihr endgültiges Ziel.

Nicht nur gut, wahr, schön

Eine solche vertrauende Haltung, die versteht, die Wirklichkeit als Gabe zu begreifen, wird freilich zugleich beständig torpediert durch die Erfahrung, dass die Welt eben doch nicht nur gut, wahr und schön ist, sondern dass der Mensch in der Welt auch der Lüge, dem Bösen, dem Leid und schließlich dem Tod begegnet.

Des Menschen Wunsch und sein Bemühen, sich der Welt gegenüber im Vertrauen zu öffnen, kann also allzu leicht verletzt, enttäuscht und erschüttert werden. Mögliche Folgen daraus sind insbesondere die Angst und die vielen Formen der Hoffnungslosigkeit.

Das christliche Menschenbild und die Erlösungsbedürftigkeit

Der Mensch erfährt sich somit in dem Dilemma, dass seine Sehnsucht nach Sinn und Glück zwar gegen unendlich geht, dass er sich aber andererseits schwer tut, zu vertrauen, dass ihm die Erfüllung tatsächlich darin auch von Gott her zuteil werden kann. Und so sucht er beständig in einer nur endlich verstandenen Welt nach Erfüllung.

Er neigt folglich dazu, die Dinge und Menschen in seiner Umgebung zu Erfüllungsgehilfen seiner Sehnsucht zu instrumentalisieren. Er neigt dazu, sie zu etwas zu stilisieren, was endliche Dinge oder Lebewesen aber nicht sind und nicht sein können.

Der Mensch kann sich nicht selbst Heil verschaffen

Folgen solcher fehlgeleiteten Sehnsucht können zum Beispiel die vielfältigen Formen von Idolatrie sein oder von verkehrten Abhängigkeiten in menschlichen Beziehungen oder Süchte jedweder Art.

In seiner gebrochenen Verfassung erfährt der Mensch aufs Ganze gesehen seine Unfähigkeit, sich selbst das Heil zu verschaffen, sich selbst zu erlösen. Denn eine Suche nach dem bleibenden und unerschöpflichen Sinn und Glück, die am Ende innerweltlich gesehen unerfüllt bleiben muss oder die nur auf die ewige Wiederkehr des Gleichen stößt, wird zuletzt abstumpfen oder gar in Gleichgültigkeit, Zynismus oder Resignation umschlagen.

Erlösung durch Christus

Das Christusereignis hat die gläubige Tradition im Nachhinein gelehrt, dass die menschliche Seele eine „anima naturaliter christiana“ ist. Das bedeutet, dass in der Kirche die lebendige Erfahrung vorherrscht, dass das Erlösungsgeschehen durch Christus eine Antwort von Gott her ist, nach der sich die Menschen aller Zeiten gesehnt haben und sehnen. Sie passt in so ausgezeichneter Weise zu den Bedürfnissen menschlichen Seelenlebens, dass die Antworten, die der Glaube an Christus schenkt, zutiefst diesen Bedürfnissen nach Sinn, Glück und erfüllter Beziehung entsprechen.

Das göttliche Entgegenkommen in Christus ist aber zugleich eine Antwort, die dennoch nicht aus der Struktur menschlicher Sehnsucht und menschlichen Seelenlebens einfach ableitbar und präjudizierbar wäre. Vielmehr wird durch Christus die menschliche Sehnsucht nach Sinn und Glück nicht nur erfüllt, sondern zugleich völlig unerwartet und ungeahnt noch einmal überboten.

Schlüssel und Tür

Diese Erfahrung speist sich aus der gläubigen Einsicht, dass Christus in seiner Menschwerdung, in seinem Sterben und Auferstehen alles Menschliche angenommen und in sein göttliches Leben aufgenommen hat. Die menschliche Natur Christi ist gewissermaßen der Schlüssel und die Tür zugleich, durch die hindurch der Mensch wieder von neuem Zugang zum ewigen Leben und zur Liebe Gottes des Vaters geschenkt bekommt. Er wird, wie die Bilder der Schrift sagen, von neuem Kind des göttlichen Vaters und „Hausgenosse Gottes“ (Eph 2,19).

Wenn der Mensch die Verbindung mit Christus von innen her im Glauben realisiert und lebt, dann kann diese Verbindung den Menschen schon in dieser Welt befördern in seiner Fähigkeit zur Liebe, zum Vertrauen und zur Hoffnung. Der Mensch wird dadurch befähigt, ein Leben zu führen, in dem er beispielsweise von Angst befreit wird, sich aus verkehrten Abhängigkeiten und Egoismen löst, Verzweiflung überwindet und zur Liebe befähigt wird. Im Glauben gewinnt der Mensch eine neue, existenzielle Freiheit aus der Tiefe seines Personseins, die Freiheit der Kinder Gottes (Röm 8,21).

Der Glaube an Christus

Freilich bleiben auch nach der Taufe die oben geschilderte Erfahrung der Desintegration des Menschen und die damit verbundene beständige Aufforderung zur personalen Integration etwa seines Geist-Leib-Verhältnisses oder seines naturalen Trieblebens. Die Glaubenserfahrung der Christen zeigt aber, dass die in der Taufe geschenkte Verbundenheit mit Christus dem Menschen hilft, auf Dauer im Guten zu wachsen und weniger verführbar gegenüber der Lüge und dem Bösen zu sein.

So kann der Glaube an Christus einen Menschen von innen her erneuern und ihn zu einem „Licht der Welt“ (Mt 5,14) machen, der mit seinem befreiten Leben Zeugnis für die reale Gegenwart Christi in der Welt gibt und für das ewige Leben, in dem er jetzt schon – auf Hoffnung hin – lebt: „Wenn jemand in Christus ist, ist er eine neue Schöpfung“ (2 Kor 5,17).

Das christliche Menschenbild: Glaube in der Kirche

Um dieser Gemeinschaft mit Christus und in Christus mit dem Vater teilhaftig zu werden, ist es für den Menschen nötig, in einer inneren Verbindung mit Christus zu leben. Das Leben mit Christus ist aber sowohl eine individuelle Erfahrung des einzelnen Menschen, wie auch immer zugleich eine gemeinschaftliche Erfahrung derer, die mit ihm verbunden leben.

Es war immer die Überzeugung der Christen, dass der Glaube an Christus im Grunde nicht von einem einzelnen Menschen, der sich von anderen isoliert, gelebt werden kann. Glaube drängt zur Gemeinschaft, denn Christus  selbst ist es, der zur Gemeinschaft mit sich nicht nur den Einzelnen, sondern die Vielen beruft, die alle zusammen – in der Kraft seines Geistes – seinen Leib, die Kirche bilden.

Vereinigung mit Christus im Glauben

Die Vereinigung mit Christus im Glauben ist also immer zugleich ein Hineingenommenwerden in seinen Leib, die Kirche.  Diese Hineinnahme vollzieht sich ausdrücklich in der besonderen sakramentalen Form der Taufe, sie vertieft sich in der Eucharistie und in der Firmung. Und sie wird in den anderen Sakramenten der Kirche, die sich auf spezifische Lebenssituationen beziehen, jeweils erneut konkretisiert und bekräftigt.

Die sakramentalen Zeichen bezeichnen und bewirken also zugleich die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Glaubenden, zum Leib Christi und ineins damit schenken sie die Gnade und Befähigung, ein Leben zu führen, das der Zugehörigkeit zu Jesus Christus und seiner Kirche entspricht.

Kirche ist personale Gemeinschaft

Kirche ist also zuerst eine personale Gemeinschaft von denen, in denen Christus in seinem Geist lebendig ist. Sie findet ihre ursprünglichste und zugleich vollendete Gestalt in der Mutter des Herrn. Maria war und ist als Geschöpf bleibender Wohnort Gottes in der geschaffenen Welt; sie ist das neue Geschöpf schlechthin, das in denkbar engster Verbindung mit dem dreifaltigen Gott gelebt hat und lebt.

Sie hat in der Urform das vollzogen, was seit jeher der Auftrag und die Sendung der Kirche ist: In der Kraft des Heiligen Geistes Gott zu empfangen und als Liebe zur Welt zu bringen. Im Blick auf Maria zeigt sich, dass Kirche sich von ihrer Mitte her am tiefsten im eucharistischen Geheimnis vollzieht.

Sie vergegenwärtigt und bezeugt in der Feier das Kreuzesopfer und die Auferstehung ihres Herrn, und sie befähigt und sendet die teilnehmenden Christen, um in Wort und Tat Zeugen dieser Gegenwart in der Welt zu sein. Die Mutter des Herrn ist in dieser Hinsicht das Urbild erneuerten und befreiten Menschseins schlechthin, an der jede christliche Anthropologie ihr Maß nehmen kann.

Kirchliches Engagement

Auf der Handlungsebene drückt sich diese Zeugenschaft der Kirche in einem allgemeinen Sinn zum Beispiel im kirchlichen Engagement für die Achtung jeder Person, in der Sorge um die besonders Benachteiligten einer Gesellschaft, in der Bereitstellung von Bildungsmöglichkeiten und Perspektiven für jeden oder im Ringen um die nachhaltige Bewahrung der Schöpfung aus.

Kirche als personale Gemeinschaft ist auch die Gemeinschaft derjenigen, die sich in Kontinuität mit der großen Überlieferung und Weitergabe des Glaubens verstehen, die von den Aposteln herkommt und für alle Menschen bestimmt ist. Die apostolische Tradition findet insbesondere im Bischofsamt ihre Fortsetzung, während Priester und Diakone dem jeweiligen Bischof in ihren besonderen Dienstfunktionen für das Volk Gottes zugeordnet sind.

Das Bischofsamt: Petrus-Dienst

In der Nachfolge des biblisch besonders hervorgehobenen Petrus-Dienstes kommt dabei dem Bischof von Rom eine besondere Funktion im Dienst der Leitung und der Einheit des Gottesvolkes zu. Die römisch-katholische Kirche versteht sich daher als diejenige Gemeinschaft, in der die apostolische Tradition, die auch die Weitergabe der Sakramente einschließt, im umfassenden Sinn gewahrt wurde.

Sie bejaht aber zugleich, dass auch in anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften der Mensch in die heilbringende Verbundenheit mit Christus finden kann. Dies wird insbesondere in der gegenseitigen Anerkennung des Sakraments der Taufe bestätigt.  Weil aber Christus selbst wollte, dass alle, die an ihn glauben, „eins sind“ (Joh 17,11), sind das ökumenische Gespräch und das Bemühen um gegenseitige Annäherung und Verständigung aller Christgläubigen ein bleibender und unverzichtbarer Auftrag des Herrn.

Das Geheimnis der Stellvertretung

Die Zusammengehörigkeit und Verbundenheit der Christen im einen Leib des Herrn lässt auch die Möglichkeit des Geheimnisses der Stellvertretung einsehen. So wie Christus stellvertretend für die Menschen gestorben und auferstanden ist, so ist es in seiner Nachfolge möglich, dass in der Kirche einer für den Anderen eintritt, betet, mitträgt, sich mit dem Anderen freut und mitleidet.

So werden im Geheimnis des Kreuzes alle, die zu Christus gehören, einbezogen in das Geheimnis der Erlösung der Menschen und der Welt. Jeder kann in der Kraft seiner Liebe, die ihm aus der Lebenshingabe des Herrn zuwächst, in der Kirche ein Mensch der stellvertretenden Liebe für die Anderen werden.

Das christliche Menschenbild: Person-sein und Person-werden

Die klassische abendländische Lehre vom Menschen kennt den auffordernden Imperativ: „Werde, der du bist!“ Die christliche Tradition anerkennt und vertieft diese Aufforderung zugleich. Sie hält daran fest, dass der Mensch von Anfang an immer schon Person ist. Sie ist zugleich der Überzeugung, dass der Mensch sein volles Person-sein erst in der Verbindung mit Christus in seiner Kirche realisieren kann.

Diese Überzeugung wächst aus der Erfahrung und der Einsicht, dass der Mensch einerseits zum Leben in Wahrheit und Liebe berufen ist, dass er aber andererseits dieses Leben ohne Christus wenn überhaupt dann nur bruchstückhaft realisieren kann. Das Neue Testament verweist, insbesondere in der Bergpredigt und im Johannes-Evangelium, auf die spezifischen Charakteristika eines neuen Menschen, der mit Jesus lebt.

Charakteristika des „neuen Menschen“

Es sind die Demütigen, die Armen vor Gott, die nach Gerechtigkeit Strebenden, die, die reinen Herzens sind; es sind die Friedliebenden, diejenigen, die mit den Hungernden hungern, die mit den Leidenden leiden, die in Kauf nehmen, um Christi willen verfolgt zu werden; es sind die Wahrhaftigen, die Barmherzigen, die Versöhnungsbereiten; es sind die Arglosen, die nicht ihr Eigenes suchen; diejenigen, die die Feinde lieben, die Beter und die Vertrauenden, in einem Wort: die Liebenden im Sinne Jesu.

In diesem Sinn ist die Erfüllung allen Gesetzes die wahrhaftige Liebe zu Gott, zu den Menschen und zu allen Geschöpfen – aber es ist die Liebe, die Christus selbst in Person ist und die er in seinem Geist verschenkt. Weil der Mensch nur in dieser Liebe ganz er selbst und wahrhaft frei werden kann, und weil diese Liebe aus Christus kommt, kann der Jesus des Johannes-Evangeliums sagen: „Getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen.“ (Joh 15,5).

Den Sinn des Lebens verstehen lernen

In der Verbindung mit Christus aber lernt der Mensch auf seinem konkreten, geschichtlichen Lebensweg den Sinn seines Lebens verstehen und realisieren. Er begegnet in spezifischen Situationen und geschichtlichen Konstellationen den Gaben und Aufgaben, die unvertretbar je ihm zukommen, und durch die er aufgefordert wird, sie im Geist Christi zu bejahen und anzunehmen.

Die christliche Erfahrung lehrt, dass der Mensch in der bejahenden und freudigen Hingabe an eine Aufgabe oder an Andere seine nur ihm zukommende spezifische Berufung und Sendung finden kann. Darin verwirklichlicht sich im Gehen des Weges der Nachfolge der tiefere Sinn seines Lebens.

Das christliche Menschenbild und Leiderfahrungen

Die Erfahrung von Leid ist in den vielen möglichen Formen der Hingabe aber nicht aus-, sondern eingeschlossen. Gerade das Kreuz Christi kann dem Glaubenden verdeutlichen, dass es in dieser Weltzeit kein Leid mehr gibt, das nicht von Christus am  Kreuz her noch einmal mitgetragen wäre und insofern auch zum Ort der Sinnfindung werden kann.

Die Aufforderung Jesu, in seiner Nachfolge das Kreuz zu tragen, verweist auf diese grundsätzliche Möglichkeit, auch in der Leiderfahrung immer noch Sinn zu entdecken. Damit kann und darf freilich die Erfahrung des Leides und des Bösen in dieser Welt nicht einfach schön geredet oder nur pädagogisiert werden.

Dazu sind ihre Formen vielfach zu schrecklich und die Betroffenen des Leides sind allzu oft die, bei denen es eine bloß menschliche Logik am wenigsten einsieht. Die Frage nach dem Warum findet in dieser Welt also keine letzte Antwort. Aber der Glaube kann im Gekreuzigten immerhin den Gott finden, der in jedem Leid mit den Geschöpfen solidarisch ist und mitgeht und mitträgt.

Ehe und Familie im christlichen Menschenbild

Von allen unterschiedlichen Lebensformen, in die der Mensch auf seinem Glaubensweg hineinfindet, schätzt die Kirche Ehe und Familie besonders hoch, denn in ihr lernt der Mensch zunächst ganz elementar als Mensch zu leben; er lernt darüber hinaus in besonderer Weise, Verantwortung für Andere zu übernehmen und sich so selbst zu überschreiten. In der wechselseitigen Sorge füreinander erfährt der Mensch sowohl tiefen Sinn, aber auch Beheimatung und Geborgenheit.

So ist die Familie zugleich Lebensschule und privilegierter Ort der Lebens- und Glaubensweitergabe und daher besonders zu schützen. Gleichwohl können und dürfen Christen nicht übersehen, dass heute viele junge Menschen nicht mehr im klassischen Familienmodell aufwachsen und dass zugleich viele Erwachsene dieses Modell – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr als die eigene bevorzugte Lebensform wählen oder wählen können oder darin scheitern. Gerade für Seelsorge und Bildungsarbeit in der Kirche sind die pluriformen Weisen der Lebensgestaltung heute eine besondere Herausforderung.

Ordensleben

Es hat aber in der Kirche zu allen Zeiten auch Menschen gegeben, die einen ausdrücklichen Ruf des Herrn empfangen haben und empfangen, der sie auffordert, ihm in der spezifischen Form der Ganzhingabe nachzufolgen und darin auch die Lebensweise des Herrn ausdrücklicher nachzuahmen. Sie leben dann ganzheitlich aus der Gemeinschaft mit ihm und bringen dies insbesondere in der Lebensform der Keuschheit und des Gehorsams zum Ausdruck.

Einige sind auch dazu berufen, diese Lebensform im Versprechen der evangelischen Räte zu leben, die neben den genannten die Armut mit einschließt. Eine solche Berufung nimmt in ihrer Lebensform vorweg, was einst allen Menschen verheißen ist: ein Leben der Liebe, in dem Gott alles in allem ist. ( vgl. 1 Kor 15, 28).  Wenn ein solches Zeugnis gelingend und froh gelebt wird, ist in der Welt und für die Welt ein herausforderndes Zeichen dafür, dass Gott tatsächlich gegenwärtig und erfahrbar ist und ein menschliches Leben schon jetzt zu erfüllen vermag.

Was ist mit den Anderen?  

Wenn gesagt wurde, dass sich menschliches Leben letztlich nur in Christus erfüllt, und wenn es einen unauflöslichen Zusammenhang zwischen Christus und seiner Kirche gibt, dann stellt sich die Frage: Was ist mit den anderen Menschen, die weder Christus noch die Kirche kennengelernt haben? Das Evangelium lehrt, dass diese Menschen zunächst Auftrag der Kirche sind, weil Christus selbst die Seinen gesandt hat, alle Menschen zu seinen Jüngern zu machen (Mt 28.19).

Die Weitergabe des Evangeliums erfolgt aber sowohl im Wort wie in der liebenden Tat. Vor allem in der Liebe, die dem Anderen – ob gläubig oder nicht – umsonst dient, kommt dieser Andere mit Christus selbst in Berührung. Eine Kirche also, die sich von der Welt abschließt und ihren Auftrag zur Vergegenwärtigung des Herrn in der Welt vernachlässigt, ist nicht die Kirche, die der Herr wollte.

Den Herrn erkennen

Und wenn ein Mensch – ob gläubig oder nicht – in sich selbst dem Ruf seines Gewissens folgt und das Wahre erkennen und das Gute tun will und sich zeitlebens darum bemüht, von dem dürfen wir die berechtigte Hoffnung haben, dass er spätestens im Tod dem Herrn selbst von Angesicht zu Angesicht begegnet und ihn tatsächlich auch als den erkennen wird, dem er – vielleicht unausdrücklich – gefolgt ist.

Umgekehrt wird es wohl auch in der Kirche Menschen geben, deren Glauben nie in eine existenziellere Tiefe findet – und für die es dann zumindest offen ist, ob sie den Herrn am Ende in einem tiefen Sinn erkennen werden und er sie (vgl. Mt 25,12).

Heilsanspruch und Heilsnotwendigkeit

So besteht einerseits zwar eine gewisse Spannung zwischen dem Heilsanspruch der Kirche und der Rede von der Heilsnotwendigkeit der Taufe einerseits und der Erfahrung, dass viele nie die Taufe empfangen andererseits. Gleichwohl eröffnet auch hier die Erfahrung und die Möglichkeit der Stellvertretung eine Tür.

Es ist möglich, dass die Menschen in der Kirche nicht nur stellvertretend füreinander einstehen, sondern eben auch für diejenigen, die „draußen“ sind. Und so besteht die berechtigte Hoffnung, dass am Ende sehr viele Menschen aller Zeiten und Räume durch Christus und seine Kirche zum endgültigen Heil in ihm finden werden – auch dort, wo sie ihm nicht ausdrücklich begegnet sind.


Der oben stehende Text über das christliche Menschenbild ist zum ersten Mal erschienen in dem Buch „Gegenwart begreifen – Zukunft lernen. Das Leitlinienprojekt der Katholischen Erwachsenenbildung in der Erzdiözese München und Freising“, München 2013, 135-151. Hier ist er leicht überarbeitet und erweitert.


Einen weiteren Beitrag über das christliche Menschenbild in Bezug auf Sex und Gender können Sie unter folgendem Link nachlesen: „Sex, Gender und das christliche Menschenbild