Das Leid der Betroffenen, die Katastrophe für die Kirche und die österliche Hoffnung

Für den Passionssonntag der Fastenzeit 2022 habe ich Verantwortliche unseres Bistums eingeladen, mit mir einen Kreuzweg im Anliegen der Betroffenen von Missbrauch in unserer Kirche zu gehen. Der Weg ging von Altötting nach Heiligenstatt in die Wallfahrtskirche zu den Unschuldigen Kindern. Dort haben wir eine Andacht gefeiert. Hier die Predigt zum Nachhören, Downloaden und weiter unten auch zum Nachlesen.
Mit dabei waren Mitglieder unseres Domkapitels, des Ordinariatsrates, der Dekanekonferenz, des Diözesanrates und zahlreiche Gläubige. Besonders gefreut hat mich, dass auch Betroffene mitgegangen sind, unter anderem Rolf Fahnenbruck, der in einigen Texten auch ein sehr persönliches Zeugnis gegeben hat.

Der Bilderbogen zeigt Stationen auf dem Kreuzweg und von der Andacht in der Wallfahrtskirche. Die Andacht wurde musikalisch mitgestaltet von Jugendlichen aus dem Pfarrverband Unterneukirchen. (Bilder: S. Schmidt, M. Glass, R. Kickinger)

Das Leid der Betroffenen, die Katastrophe für die Kirche – und die österliche Hoffnung
Beten? Wie und für wen?

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,

warum sind wir heute hier? Warum gehen wir einen Kreuzweg, den Kreuzweg Jesu, und laden dazu leitende Verantwortliche unserer Kirche von Passau zum Mitbeten ein? Und warum laden wir auch andere Gläubige ein? Und warum Menschen, die selbst betroffen sind von Leid durch sexuellen Missbrauch und Gewaltmissbrauch in unserer Kirche? Warum? Was bedeutet das? Welcher Ausdruck von Glauben einer kirchlichen Gemeinschaft ist das? Zunächst ist es schlicht und einfach Gebet. Wir wenden uns an Gott im Gebet. Jeder einzelne, der dabei ist – und wir miteinander. Und wir hoffen und wünschen uns, dass Gott es sieht. Aber jeder, der sich schon einmal ernsthaft mit der Frage beschäftigt hat, was Gebet ist, der ahnt, dass da sogleich eine Frage mitläuft, eine Frage wie: Meint es der Beter, die Beterin ernst? Reden wir betend nur Wörter, die gefährdet sind, in oberflächliches Plappern abzugleiten? Oder kommt unser Beten und Sprechen aus der inneren Mitte, aus dem Herzen, aus dem ganzen Menschen? Meint er es ernst? Steht sie wirklich ernsthaft vor Gott? Und helfen wir auch einander – in der Weise, wie wir da sind, dass wir auch miteinander ernsthaft ins Beten kommen? Und wenn wir so darüber nachdenken, dann spüren wir: Beten muss auch gar nicht nur aus wohl gesetzten Worten bestehen. Beten kann ein Schrei aus tiefer Not sein. Beten kann auch ein Verstummen sein, ein Hinein-verstummen ins Schweigen vor Gott, weil die Worte fehlen. Beten kann Weinen sein oder Jubeln und Dank; oder Angst, Trauer, Hadern, Bitterkeit, Scham, Freude, Liebe und mehr. Und irgendwie spüren wir: Wenn wir ganz da sein können, mit dem, was uns bewegt, was wir tragen und mitbringen, dann bekommt auch unser Beten Tiefe und Gewicht, dann wird es intensiv, existenziell – und wir kommen so womöglich eher mit dem in Berührung, zu dem wir beten. Mit dem, der uns innerlicher ist als wir es selbst sind. Und der zugleich so viel höher ist als der Himmel über uns. Und wir hoffen, dass wir so uns selbst vor Ihn bringen können aber zugleich auch die vor Ihn mitnehmen, mit hintragen können, die uns Anliegen sind. Und die es vielleicht auch selbst nicht schaffen oder nicht mehr können.

Heute sind es ausdrücklich die Menschen, die in unserer Kirche von sexuellem Missbrauch, von Gewaltmissbrauch oder spirituellem Missbrauch betroffen sind. Viele von ihnen haben dieses Furchtbare oft schon als Kinder oder Jugendliche erleiden müssen – und tragen nicht selten ihr ganzes Leben lang leidvoll an den Folgen davon.

Fragen an unser Kirche sein

Warum sind wir hier? Weil auch wir selbst ernsthaft vor Gott hintreten wollen, weil wir ihm jedes einzelne Opfer, jeden einzelnen Betroffenen hinhalten wollen – aber auch uns selbst und unsere eigenen Grenzen. Auch weil wir stellvertretend für viele andere von uns Buße tun und bekennen wollen: Auch wir haben Anteil daran, dass es geschehen konnte. Auch in uns, auch in mir gibt es die Seite, die wegschauen will, die keinen Ärger will, die das Problem kleiner machen oder schöner reden will als es ist. Auch in mir gibt es die Seite, die nicht glauben will, dass es geschieht oder geschehen ist. Und natürlich sind zuerst die unmittelbaren Täter schuld – und haben die erste Verantwortung. Aber haben wir in der Weise, wie wir unser Kirche-sein leben und gelebt haben, als Gläubige in Gemeinden, aber vor allem auch wir Verantwortungsträger, haben wir nicht auch insgesamt und manchmal miteinander dazu beigetragen, dass Taten unter der Decke blieben? Dass Betroffene kein Gehör fanden, kein Vertrauen, keinen Glauben? Haben wir und haben unsere Vorgänger und Vorgängerinnen in verantwortlichen Positionen nicht dazu beigetragen, dass wir ein System, eine Weise von Kirche-sein stabilisiert haben, in dem es für Betroffene lange, lange keine Gerechtigkeit gab? Wie sensibel, wie offen waren und sind wir für ihre Geschichten? Wie nahe lassen wir sowas an uns ran? Denn es ist wirklich schwer, liebe Schwestern und Brüder, manche dieser Geschichten zu hören, zu lesen, auszuhalten? Es stimmt ja: Sich nicht damit zu beschäftigen, schützt auch einen selbst. Und es schützt zugleich die Institution. Und ich kenne auch unsere Neigung zu Selbstentschuldigung: „Bei uns sind es ja nicht so viele. Und das, was bei uns war, war vielleicht nicht so schlimm wie anderswo.“ Doch, doch meine Lieben, auch bei uns gab es Unaussprechliches, nicht wenig. Und wir wissen nicht, ob und in welchem Ausmaß es immer noch da ist.

Der Mensch – ich eingeschlossen – ist ein Abgrund

Denn das habe ich auch gelernt: Der Mensch ist ein Abgrund. Und ich meine nicht einfach die anderen. Ich meine mich selbst und uns alle. Ich habe genug in Beichte und Seelsorgsgesprächen erfahren und in meinem eigenen Leben, um nicht zu wissen, dass jeder und jede dazu neigt, in Beziehungen unehrlich zu sein, hintergründige Machtkämpfe auszutragen, den anderen unterzubuttern, ihn nur zu benutzen für eigene Zwecke und den eigenen Vorteil und mehr. Keiner von uns ist im Leben seiner Beziehungen ganz heil und jeder und jede ist gefährdet, sich auch missbräuchlich zu verhalten. Und wir ahnen oder wissen es doch: Unsere Sexualität kann in unseren Beziehungen einerseits so eine großartige Quelle und Kraft für Hingabe, Lust, Freude und Liebe sein. Und doch ist sie andererseits im egoistischen Menschen immer auch gefährdet, also letztlich auch wieder in fast allen von uns. Sie ist gefährdet, sich zu verselbständigen. Sie ist gefährdet, hintergründig die eigentliche Triebkraft zu werden, für das Ausnutzen des anderen Menschen – und dabei Verletzungen in Kauf zu nehmen und ohne dabei dessen Würde zu achten.

Das Diabolische der Taten und Täter

Und das Perfide, das Diabolische dabei ist: Gerade gegenüber Kindern und Jugendlichen kommt der Missbrauch im Grunde fast immer unter dem Schein des Guten, des Schönen, der Liebe daher. Das Kind, der Jugendliche wird nicht selten zum Auserwählten des Täters stilisiert, es wird von ihm zu etwas ganz Besonderem erklärt – um dann schließlich doch in der Tiefe seiner Seele und seiner Leiblichkeit dramatisch verletzt zu werden; und damit zugleich auch verstört und vertrauenslos zu werden im Verhältnis zur Wirklichkeit insgesamt, zu sich selbst, zu anderen Menschen und zu Gott. Im Evangelium eben haben wir dazu den dramatischen Satz gehört: „Wer auch nur einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde. Wehe der Welt mit ihrer Verführung. Es muss zwar Verführung geben; doch wehe dem Menschen, der sie verschuldet.“

Die Katastrophe

Liebe Schwestern und Brüder, wie sollte es in unserer Kirche eine größere Katastrophe geben als diese? Wir wollen als Kirche der Ort sein, an dem Jesus selbst durch uns erfahrbar wird, als Liebe, als Gnade, als Vergebung, als Ort des Vertrauens, der Hoffnung, der inneren Freiheit und mehr. Kinder sollen durch unser Handeln lernen, Kinder Gottes zu werden, Freunde und Freundinnen Jesu. Aber sie wurden nicht selten durch einen vermeintlichen Freund Jesu in den Abgrund einer oft lebenslangen Höllenerfahrung gestürzt. Wenn sich jemand ausdenken wollte, wie er die Kirche im tiefsten Inneren am besten treffen und vernichten könnte, dann durch solche Unheilserfahrung für die Menschen.

Die Bitte um Vergebung für meinen und unseren Beitrag

Liebe Schwestern und Brüder, ich bin hier und wir sind hier um einmal mehr Vergebung zu erbitten von unserem Gott, vor unseren Betroffenen von sexueller und anderer Gewalt und auch vor den Menschen, die dadurch ihr Vertrauen in Kirche und Glaube verloren haben. Ja, ich stehe für eine Institution, die auch dazu beigetragen hat, das Leid von Betroffenen zu vermehren. Diese Seite gibt es in unserer Kirche. Ich stehe mit vielen anderen, die hier sind, für eine Institution, die ihren eigenen Auftrag und ihre Sendung immer wieder dramatisch pervertiert hat. Ich stehe für eine Institution, in der es Denkmuster, Handlungsmuster und Strukturen des Selbstschutzes, der Vertuschung, des Wegschauens gab und immer noch gibt. Ich stehe für eine Institution, in der wir keine Verantwortung übernommen haben und Opfer von Gewalt und Missbrauch im Regen und in der Kälte der Welt und vor allem in ihrem Leid haben schutzlos stehen lassen.

Wir sind Teil einer Institution, die dramatisch versagt hat

Ich stehe für eine Institution, in der Jesus und seine Gegenwart für uns oft nicht mehr die heilende Mitte sind, sondern oft nur mehr schöne Fassade. Ich stehe für eine Institution, in der wir uns den Glauben an seine heilende, befreiende, verzeihende Nähe haben aushöhlen und leer werden lassen. Ich stehe für eine Institution, in der wir uns viel zu wenig bemüht haben, diese Nähe zu suchen, sie erspüren zu lernen, uns von ihr verwandeln zu lassen. Damit Er wirklich die Mitte sei. Ich bin überzeugt: Wer wirklich lernt Jesus zu lieben, Ihn mit seinem eigenen Leben in Wort und Tat zu ehren und anzubeten – im vollen Sinn des Wortes; so ein Mensch lernt auch immer mehr – mit einem Bild aus dem Alten Testament – so ein Mensch lernt, die Schuhe auszuziehen vor dem anderen Menschen – weil er gerade in der Begegnung mit dem anderen und seiner Würde heiligen Boden betritt. Heilig deshalb, weil Jesus auch im anderen wohnt. Und wie wir aus dem Evangelium wissen, ganz besonders im Kleinen, im Armen, im Ausgegrenzten. Und ja, Herr, ich bekenne es Dir: Ich, wir haben als Menschen der Kirche mit dazu beigetragen, dass Du in den Betroffenen nicht geehrt, sondern erneut gekreuzigt worden bist. „Was Ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan,“ hast Du uns in dein Evangelium hinein buchstabiert.

Ein Dank an den Zeugen

Lieber Herr Fahnenbruck, Sie sind als Sprecher unseres Betroffenenbeirats heute dabei und haben unseren Kreuzweg mitgestaltet und mitgebetet. Ich danke Ihnen sehr für diesen Mut und dieses eindrucksvolle Zeugnis. Ich bin nach unseren Begegnungen überaus beeindruckt von dem, was Sie mir über Ihren Weg erzählt haben. Über den Weg, den Sie in Ihrem Leben gegangen sind. Sie haben vor allem durch einen Priester der Kirche unsägliches, zutiefst existenzbedrohendes Leid erfahren. Und Sie haben aber auch – und zwar Gott sei Dank auch durch die Hilfe von Menschen der Kirche – wieder einen Weg hinausfinden können. Sie haben mir den beeindruckenden Satz gesagt: „Mein Glaube war mir immer wichtig, trotz allem. Und der oder die Täter waren es nicht wert, mir meinen Glauben zu nehmen.“ Viele andere Betroffene finden nicht mehr zu dieser inneren, zur eigentlichen Mitte der Kirche – und wer könnte sie darin nicht verstehen. Sie aber, Herr Fahnenbruck, sind heute dabei. Ich denke, der eine oder die andere Betroffene auch noch. Und ich möchte auch heute noch einmal im Namen der Kirche von Passau, auch Sie und alle Mitbetroffenen um Vergebung bitten. Wir bekennen, es ist Unverzeihliches passiert – und letztlich kann nur Gott Unverzeihliches verzeihen. Und wenn wir Menschen es können, dann nur in seiner Kraft. Ich möchte Ihnen und den anderen Mitgliedern unseres Betroffenenbeirats besonders danken, dass auch Sie uns mithelfen, neu sehen zu lernen, was passiert ist und was heute nötig ist, damit es nicht mehr passiert. Und wie wir Betroffene besser begleiten können. Der Dank gilt auch allen anderen, die sich in unserer Kirche im Haupt- und Ehrenamt oder in der Aufarbeitungskommission mühen, dass geholfen wird – und dass das Schlimme nicht mehr passiert.

Es ist – Gott sei Dank – Seine Kirche

Sie, Herr Fahnenbruck, zeigen mir und vielen anderen Menschen, dass Sie mit der Kirche nicht fertig sind. Gott sei Dank. Denn Sie zeigen damit auch uns allen, dass es mitten in der Kirche trotz aller Sünde und Gewalt, wirklich auch das Heil zu finden gibt – in Jesus. Und wenn wir noch einmal an die Passion denken, die wir auf dem Kreuzweg mitgebetet haben, dann wird uns deutlich, dass schon ganz am Anfang der Kirche, sogar in unmittelbarer Nähe zu Jesus der Verrat gegenwärtig war, in Judas, in Petrus – und auch in allen anderen, die am Ende feige vor Seinem Kreuz  davongerannt sind. Ja, unsere Sünde, die Sünde der Menschheit, hat Jesus ans Kreuz gebracht und in den Tod getrieben. Aber er hat den Tod besiegt, sein Ostern liegt schon hinter uns, auch wenn wir dem Fest jedes Jahr neu entgegengehen. Ostern macht uns deutlich, dass Missbrauch, Leid und Tod auch die Kirche nicht vernichten, weil es im Innersten Seine Kirche ist, nicht unsere, auch dann noch, wenn wir sie besudeln. Und weil ER, unser Herr gekommen ist, um Missbrauch, Leid und Tod in uns allen und in seiner Kirche zu überwinden. Herr, schenke uns und vor allem allen Betroffenen diese Hoffnung auf Dich, denn durch Dein heiliges Kreuz hast Du die Welt erlöst. Amen.